Tolles Vorbild

20. Januar 2020

Die Fußgängerampel ist zwar knallrot, aber die Straße komplett leer, bis an den Horizont. Also rüber da, warum auch nicht? Ich will ein bisschen Anarchie im Alltag wagen, ein bisschen Adrenalin schmecken. Ein guter Grund fürs Warten wäre allerdings das anwesende Kind: 8 Jahre alt, weiblich, klein. Das Kind befindet sich hinter mir, quasi im toten Winkel. Da steht es und wartet brav. So hat es das gelernt: Bei Rot ist zu warten, zur Not für immer und ewig. Und jetzt rennt dieser Pimmel bei Rot über die Ampel.

«Tolles Vorbild», kreischt deshalb die ebenfalls anwesende Mutter, die das Kind zügig an die Hand nimmt, um es an einer impulsiven Straßenüberquerung zu hindern. Impulsiv meine Antwort: Ich müsse kein Vorbild sein, erkläre ich unnötig aufgebracht. Es stimmt ja auch, finde ich.

Ihr Mann, der ebenfalls anwesend ist und nicht zwangsläufig der Vater des Kindes sein muss, mischt sich in den Konflikt nicht ein, sondern schaut einigermaßen verstohlen auf den Belag der Fahrbahn. Ich gerate derweil unnötig in Rage, da ich mich in meiner individuellen Freiheit eingeschränkt sehe usw., usf. Ich rufe doch auch nicht jedem Radfahrer hinterher, dass der Fußweg dem Fußvolk gehört. Ich denke es nur, jedes Mal.

Andere Länder

Wahrscheinlich kommt es in keinem anderen Land der Welt zu einer solchen Situation. Beispiel Athen, Griechenland: Hier schauten die Menschen regelrecht irritiert, als ich – wie ein Hurensohn – an der Fußgängerampel stehen blieb. Was macht der da, riefen sich die Menschen zu (auf Griechisch). Aber es ist doch rot, dachte ich erklärend, und alle, wirklich alle Passanten liefen an mir vorbei, rannten über die befahrene Straße, keinen einzigen Fick gebend. Würde Sandra auch dort jedem Menschen hinterherrufen? «Tolles Vorbild, Athen!»

Meine unausgegorene Philosophie: Stadtkinder sollten es draufhaben, im richtigen Moment über die Straße zu huschen – auch wenn das rote Männchen dies nicht gestattet. Autoritäten muss man misstrauen! Tu, was du willst! Kritiker dieser Einstellung würden anmerken, dass so etwas nur jemand schreiben kann, der selbst keine Kinder im lauffähigen Alter hat. Stimmt wahrscheinlich.