In Linden-Mitte sind die Menschen, denn es ist Samstag und es ist Markttag. Und es scheint die Sonne – sie wirft herrliches Herbstlicht in die Gesichter. Kaffee trinken, ganz viel Kaffee trinken. Gähnen, gaffen, herumsitzen, abwarten und warten, bezahlen und trinken. Noch einen Kaffee, bitte! Und eine Flasche Bier. Wer’s mag. Hier stehen wir und der Sohn rüttelt am Bauzaun; sie haben den Spielplatz abgesperrt, komplett eingezäunt und auch die Mülleimer sind hinter Gittern, deshalb liegt der Müll auf dem Boden. Da stehen auch die ausgetrunkenen Sektflaschen und Weinflaschen; es sind die Flaschen von letzter Nacht. Angetrunkene Köter torkeln durch den Tag und knurren und kläffen. Im Schatten ist der Boden noch feucht. Zertretene Kippen. Da kommt die Stadtbahn, wir steigen ein. Kehren zurück in unseren Stadtteil.
Brückentag, alle sind auf dem Markt. Wie ein Magnet zieht er Menschen an, die sich schick anziehen, die mit dem Benz vorfahren und auf dem Fußweg parken. Und da sind auch die jungen Familien, da sind auch wir mit dem Sohn, der aufgeregt alles benennt, das ihn interessiert: «Baum! Wauwau! Auto! Ei!»
Eine ältere Dame reiht sich in der Schlange einfach vor uns ein und steht dann dämlich vor dem Terminal herum, an das ich meine Karte halten muss, um die Brötchen zu bezahlen, die andere lieber in tausend kleinen Münzen erwerben, die stundenlang im Portemonnaie herumwühlen, als würden sie nach dem Bernsteinzimmer suchen: «Es muss doch hier irgendwo sein, na schau an, da ist es ja und Atlantis und Bigfoot und Adolf Hitlers Matschhirn.»
Und welcher Hurensohn knibbelt eigentlich einen Anti-Nazi-Aufkleber ab? Na klar: ein Nazi. Der liebe Sohn kann jetzt übrigens auch «Arsch» sagen. Falls mal ein AfD-Wichser auftaucht.
Es ist Freitag, da ist Markttag. Wir sind dort und kaufen ein: Brötchen und Gemüse und Dips. Eigentlich würden wir noch ein Mittagessen kaufen, doch der Stand, an dem es das sog. Soulfood gibt, er steht zwar da, ist aber geschlossen, da ist nichts los, niemand steht an. Der Mann nebenan weiß Bescheid: Die Betreiber hätten einen Unfall auf der Autobahn gehabt, erklärt er. Ein Albtraum.
Der Markt ist ein Ort voller Menschen, heute ist aber etwas weniger los als sonst. Das liegt an den Sommerferien, die nächste Woche enden werden. Dann wird unser Sohn in die Kita kommen, die Eingewöhnung wird starten, damit wir wieder arbeiten können, denn das ist das Wichtigste: dass alle fleißig arbeiten.
Auch wichtig sind Autos, dass die immer fahren und überall parken können. Überall? Keineswegs! Gestern hat der Nachbar von ggü. einen Pkw abschleppen lassen, er parkte vor seiner Garage, vor seiner Ausfahrt. Er wollte selbst nicht wegfahren, eigentlich hat ihn das falsch parkende Auto nicht weiter behindert, aber es ging wohl ums Prinzip. Also versperrte das Abschleppfahrzeug die Straße, stoppte damit den Verkehr, während die Abschleppung geschah. Ich saß auf dem Balkon und schaute zu, wie das Auto durch die Luft schwebte.
Vor einigen Tagen wurde ich Opfer von Womansplaining: Ich hatte den Sohn in der Trage, es war mittags, er hielt seinen Mittagsschlaf. Die Einschlafphase ist kritisch und für mich derzeit voller Frust. Einst schlief der Sohn prima in der Trage ein, das war eine Sache von fünf Minuten. Nun aber dauert es länger, viel länger, und der Sohn leistet Widerstand – wie dem auch sei, er schlief und ich notierte etwas in meiner Notiz-App im Smartphone, als sich eine Frau vor mir aufstellte und sagte: «Sie müssen etwas vorsingen!» – Aber er schlief doch längst. Innerlich brodelnd, ob dieser Einmischung und Bevormundung, lächelte ich wohl und die Frau zog ab.
An diesem Markttag haben wir Glück: Die Holzbank ist frei, die Bank mit dem Holztisch – ein praktisches Ensemble, um den soeben erworbenen Falafel-Wrap zu verspeisen. Da sitzen wir also auf der Bank und der Sohn liegt im Kinderwagen und denkt nach. Über sich und das Leben. Ich habe den Mund voller Wrap, als eine Frau auftaucht und ohne Umschweife fragt: «Wie alt?» Ohne Einstieg, ohne Begrüßung, ohne Vorstellung. Dass sie den Sohn meint, ist klar. Alle paar Minuten fragt jemand diese Frage. Eine rasche Antwort können wir der Frau aber nicht geben – wie gesagt, wir zerkauen Wraps. Mampfen. Schmatzen. Vertilgen. Das sieht die Frau eigentlich auch und dennoch schaut sie ungeduldig aus der gestreiften Wäsche. Sie ist etwa 60 Jahre alt. Sie trägt eine sportliche Sonnenbrille. Ich mag sie nicht. Sie möge verschwinden, denke ich heimlich. In der Hand hält sie einen Pappteller voller Gulasch. Endlich erhält sie die erwünschte Auskunft: «Drei Monate.» Aha. TSCHÜSS!
Sitzen Sie da noch ganz lange?
Die Frau geht endlich weiter, kehrt dann aber zurück. Sie wirkt unschlüssig, fragt dann: «Sitzen Sie da noch ganz lange?» Sie möchte unseren Platz haben, will den Platz besetzen, die Bank und den Tisch. Damit sie ihr Gulasch essen kann.
Wir sitzen noch keine drei Minuten hier, haben also ein gewisses Anrecht, hier zu verweilen, zumal wir bei keinem Marktbesuch bisher das Glück hatten, diesen Tisch besetzen zu können – es ist ein wunderschöner Tisch, hinter uns befinden sich die Fischstände, es riecht wie an der Küste. Das Meer, die Brandung. Möwen keifen: Moin!
Ob Sie da noch lange sitzen?!
«Hallo? Ob Sie da noch lange sitzen?!», keift die Frau ungeduldig. «Ja, weil meine Frau noch stillen wird», behaupte ich. Die Frau wirkt enttäuscht, wütend, genervt. Sie treibt sich herum, schleicht von einem Tisch zum anderen, doch die sind alle besetzt – überall lungern Eltern mit ihren Babys herum.
Schließlich hat sie doch noch Glück, sie kann sich auf einer Bank zwischen zwei Leute quetschen. Da hockt sie und frisst ihr Gulasch Schiebt es sich in die Gusche. Sie schaut zu uns rüber. Beobachtet uns. Stechender Blick. Die ganze Zeit. Sie ist besessen.
Der Sohn betrachtet derweil interessiert den Markt. Findet er toll, vor allem die Blätter der Bäume, die über unseren Köpfen im Wind rascheln.
Freitags ist hier Wochenmarkt. Und weil wir freitags freihaben, gehen wir dorthin, um ein Mittagessen zu essen. Wir stehen am Falafel-Stand an, der ist sehr beliebt. Es gibt Falafel-Rollen und Falafel-Teller, ich werde heute eine Rolle nehmen, die ist einfacher zu essen, wenn man ein Baby am Bauch hat, und das habe ich. (Das brandneue Baby schläft friedlich und bekommt vom Trubel nichts mit.) Die allerlängste Schlange bildet sich stets am Kaffeefahrrad, wo der Barista plappernd Espressi zieht. Der ehemalige Bürgermeister von [unleserlich] hockt da, liest Zeitung und schlürft einen Espresso.
Unterm Vorderreifen liegt der kleine Tim, der wimmert leise
Dieser Wochenmarkt ist eventuell recht elitär. Fast alles ist teuer, manches zu teuer. Und die Leute sehen alle harmlos aus. Gewöhnlich, ein bisschen bieder, teils langweilig. Alle sind weiß, alle sind Produkt- oder Projektmanager. Oder Prozessoptimierer, die selten Fleisch essen und wenn, dann bio. Schön ist der Markt trotz der homogenen Besuchermasse, vor allem die große Wiese in der Mitte des Platzes, dort toben viele Kinder herum. Am Rand sitzen müde Eltern und unterhalten sich; die Themen: Pekip, fehlende Kita-Plätze, Babymassagen, Rückbildungskurse und so weiter. Wann kackt das Kind, wie viel kackt das Kind, wann schläft das Kind?
Eine Dame steigt aus ihrem Porsche Cayenne, sie hat beschissen geparkt, aber das merkt sie nicht, unterm Vorderreifen klebt der kleine Tim, der wimmert leise, aber die Dame bekommt das nicht mit, denn sie schimpft laut mit ihrem kleinen Mops, der Prinz Pummelchen heißt. Die Dame brummt: «Platz da, du Knochen!» Sie meint mich, ich trete rasch zur Seite, lasse die Dame samt Hund durch. Das Tier ist schon jetzt außer Atem, doch das Frauchen kennt kein Erbarmen: «Komm schon!», ruft sie und Prinz P. legt einen Gang zu. Er will sterben, sofort sterben.
Auf dem Markt weiß ich selten, was ich möchte, vielleicht diesen kleinen Keks für dreitausend Euro. (Haha.) Die älteren Damen hingegen, die wissen ganz genau, was sie wollen. Sie laufen mit einem in Schönschrift beschrifteten Einkaufszettel gezielt von einem Stand zum anderen, kaufen im Prinzip immer das Gleiche. Hundert Gramm dies, dreihundert Gramm das. Vögel bleiben in ihren Perlenketten hängen, eine Taube verendet qualvoll. Prinz Pummelchen will doch nicht sterben.
Es ist 13 Uhr, Schluss für heute. Dieser Markt ist für (arbeitslose) Langschläfer ziemlich ungeeignet. Der Milchmann fährt mit quietschenden Reifen davon, endlich Wochenende, Ciao Kakao! Am Brötchenstand scheint es noch Brötchen zu geben, die Dame aus dem Porsche kauft gerade drei Vollkornkrusten, dann sind wir dran – oder auch nicht, der Verkäufer reißt nämlich die Klappe von seinem Verkaufsauto herunter, zack, jetzt ist wirklich Schluss, er darf nichts mehr verkaufen, das gibt nur Ärger mit dem Marktmeister. Wir heucheln Verständnis, sind aber enttäuscht. So endet der Markttag – bis nächste Woche!