Vor circa zwei Monaten sind wir in eine neue Wohnung gezogen, genauer weiß es niemand mehr, und noch immer trage ich täglich Pappen zu den Papier-Containern. Die Tonne, die zum Haus gehört, ist verhältnismäßig klein – ich würde sie sofort komplett füllen und verstopfen – und das mehrmals, über Wochen hinweg. Die anderen Bewohnerinnen und Bewohner dieses Hauses würden prompt traurig werden, da sich in ihren Wohnungen viel Pappe und Papier stapeln würde. Sie würden von der Gesellschaft als Messies beschimpft und geächtet werden: «Du und deine Pappen … Was ist nur aus dir geworden?»
So ähnlich wäre es. Oder schlimmer. Also trage ich werktäglich die großen Pappteile zu den großen Papier-Containern, die sich glücklicherweise nur einige Hundert Meter entfernt von hier befinden. Dahinten, beim Edeka.
Über die vergangenen Wochen ist dies ein wunderbarer Zeitvertreib geworden, eine Art sportlicher Betätigung. Gern nutze ich zum Beispiel die Mittagspause dazu, wieder ein paar Pappen wegzubringen. Oft regnet es und ein fieser Wind weht. Jugendliche kommen mir entgegen, sie haben Schulschluss oder große Pause.
An einem dieser Tage, als ich mal wieder einen Schwung Pappe in den Container verfrachtet habe, sind da zwei Mädchen, vielleicht 12 Jahre alt. Die eine fragt mich, ob ich Feuer hätte.
«Leider nicht», gestehe ich wahrheitsgemäß und dreh mich um. Da zischt das Mädchen: «Opfer!» Ich bleibe stehe, drehe mich wieder um und frage: «Was?» – «Nicht Sie», beteuert das Mädchen genervt und verdreht die Augen.
Wenn ich Feuer hätte, würde ich die Pappen doch einfach verbrennen, denke ich leise und schleich mich. Kinder sind schon komisch.
Ein Umzug, ich soll helfen. Wäre ja lieber im Bett geblieben, aber das tyrannische Gesellschaftsetwas erzwingt meine Anwesenheit. Anfangs stehe ich im Weg und betrachte das Chaos: Mein Blick fällt auf den zerlegten Kleiderschrank. Selbst in Einzelteile zerlegt bleibt der Schrank ein unhandliches Ärgernis. Die hohen Seitenwände, mit denen man versehentlich die Tapete aufschlitzt; die vielen Schrauben und Scharniere, die verloren gehen; die spitzen Schienen, die in die Haut ritzen. Und der viele Staub, der in der Nase kitzelt und auf der Haut juckt.
Eine Wohnung ist eine Ansammlung von Staubmäusen, die über den zerkratzten Holzboden rollen wie Sträucher in einem Western. Eine Wohnung ist ein Raum voller Kram, Gedöns und Zeugs. Unterm Sofa tauchen plötzlich Dinge auf, die in ferne Vergessenheit geraten waren. Die Besitzer dieser verlorenen Gegenstände erschrecken beim Anblick und schämen sich, wenn sie das hässliche Ding in die Hand nehmen. Beobachter sehen die Entfremdung und den Ekel, der die Besitzer des verloren geglaubten Gegenstands befällt.
Ein Umzug offenbart gnadenlos die Menge an überflüssigem Zeug, das sich in Jahren angesammelt hat und nur Platz verbrauchte und keine Freude (mehr) spendete. Zum Aussortieren ist es jetzt jedoch zu spät. Also kommt das alles erst mal mit ins neue Zuhause. Und so füllen sich die Umzugskartons, so füllt sich der gemietete Transporter.
Ich trage fremde Kartons und spiele mit ihnen Tetris. Mit dabei sind auch echte Männer, die richtig anpacken. Mir rutscht das Sofateil fast aus der Hand, es ist zu schwer, ich trage lieber eine hohe Schrankwand (und schlitze Tapeten auf). Die anderen Helfer balancieren Waschmaschinen auf der Schulter. Lenin ist besonders kräftig: Mit stoischem Gesicht schleppt er riesige Schränke erst drei Stockwerke runter und später wieder ein Stockwerk hoch. Er trägt auch das Sofateil, das mir zu schwer war. Allein. Lenin verzieht dabei keine Miene, schwitzt aber gewaltig. Deo kennt Lenin nicht.
Lenin trägt die ganze verfickte Kommode
Als ich ein paar Schubladen nach unten trage, sagt der Vater der Wohnungsbesitzerin: «Nur nicht zu viel nehmen.» Ich weiß nicht, ob er das ironisch meint. Lenin hätte gleich die ganze verfickte Kommode mitgenommen. Und noch das Bett samt Matratze.
Die Kartons und zerlegten Möbel liegen und stehen in der neuen Wohnung. Zur Stärkung gibt es Würstchen, Frikadellen und Bier. Männer lieben Bier und trinken schnell und mindestens zwei Flaschen, gern drei und mehr. Einer gibt zu, dass er gern auch Korn trinkt, Korn und Bier. Wer viel verträgt, kann sich der Anerkennung sicher sein. Der Vater der Wohnungsbesitzerin findet, dass die jungen Leute heute weniger Bier trinken als die jungen Leute früher. Dann erzählt er von seinem Moped. Wie er damals die Mädchen damit beeindruckt und abgeschleppt hat. Mit dem Moped nach Hause, ins Bett mit Ingrid. Später das erste eigene Auto. Tolles Statussymbol. Ich habe kein Auto und mir reicht heute ein Alster.