In der U-Bahn diskutieren vier Mädchen darüber, ob sie einen Deutschen heiraten würden. Ne, eher nicht, lautet die einhellige Meinung. Daneben sitzen zwei Frauen am Fenster, eine alte und eine mittelalte Frau, sie machen nichts und hören dem Gespräch interessiert zu. Belauschen die Mädchen. Sie wirken leicht irritiert oder so, vielleicht belustigt – ich kann es nicht genau erkennen, die Gesichter sind schlecht beleuchtet. Die Bahn ist alt, sie rumpelt seit fast fünfzig Jahren durch die Stadt.
Dann aber erklärt eines der Mädchen, dass ihre Tante einen Deutschen geheiratet habe – und dieser Mann sei «sehr sozial», lobt sie. Die anderen Mädchen nicken: Stimmt, Deutsche sind sozialer als andere, finden sie. Die Kartoffeln, die Almans. Und doch gibt es zahlreiche Gründe, die gegen deutsche Ehemänner sprechen, das ist völlig klar. Leider muss ich dann aussteigen, werde also nie erfahren, ob die Mädchen zu einem Fazit gekommen sind.
Das Brötchen fällt der Mutter aus der Hand und landet direkt auf dem Boden. Dort kullert es entlang, als sei es auf der Flucht, dann fällt es schließlich um und bleibt liegen. Das Brötchen liegt auf dem Boden der U-Bahn-Station – nicht von irgendeiner U-Bahn-Station, sondern dem Knotenpunkt Hannovers, dem Kröpcke. Die Mutter hebt das Brötchen auf, und ich erschrecke: Will sie das noch essen? Selbstmord wäre das, nicht einmal in die Hand genommen hätte ich das verseuchte Kleingebäck. Und sie will das essen? – Nein, das Kind soll, es ist sein Brötchen, das Kind schüttelt jedoch den Kopf.
«Du isst das jetzt!», fordert die Mutter. – «Nein», insistiert das Kind, dessen rechtes Brillenglas zugeklebt ist.
Das Brötchen habe Geld gekostet, argumentiert die Mutter. – «Na und», erwidert das Kind, dem der aktuelle Brötchenpreis natürlich völlig wumpe sein kann. Die Mutter gibt auf, hat erkannt, dass der Junge lieber Weingummi essen will. Kann man dem Jungen nicht verübeln: Das Brötchen ist kontaminiert, ist eine Gefahr für Leib und Leben, ist das reinste Biogift.
Hier unten in der U-Bahn riecht’s nach Pisse. Und das liegt daran, dass Obdachlose in die Ecken und Kanten urinieren; Besoffene und Punks mit Bierblasen, die sich einen Dreck darum scheren, was andere über sie denken. Einerseits sollen Kinder ja im Dreck spielen, sagen die Leute, und den Dreck auch mal essen, damit das Immunsystem gestärkt wird. Andererseits isst die Mutter jetzt das Brötchen. Hat ja Geld gekostet.
Wo eigentlich ein Mensch sitzen könnte, sitzt ein Hund, nämlich auf dem Fensterplatz in der Stadtbahn. Es ist richtig voll. Überall existieren müde Menschen, die Feierabend haben, die nach Hause wollen. So schnell wie möglich. Viele stehen, der Hund sitzt. Neben ihm sitzt eine Frau mit einem obszön großen Filzhut auf dem Kopf. Der ist schwarz. Die Lippen der Frau sind rot, ausgemalt mit Lippenstift. Auf den ersten Blick nehme ich an, dass der Hund zur Frau gehört. Das passt auch: Hund und Frau ergeben ein stimmiges Bild. Die Frau sieht so aus, als wäre das ihr Hund.
Doch dann füttert eine dritte Hand den Hund. Und die Hand kommt von gegenüber, wo eine andere Frau sitzt. Sie hat kurze Haare und nicht mehr alle Zähne im Kiefer. In der linken Hand hält sie eine Bierplastikflasche. Garantiert nicht alkoholfrei, man riecht das jetzt auch. Zu ihren Füßen liegt ein Rucksack, ein mitgenommenes Teil, verschlissen und ebenfalls übel riechend. Der Vollständigkeit halber sei abschließend noch eine dritte Frau erwähnt, die der Filzhut-Frau gegenübersitzt. Sie sitzt also neben der zahnlosen Frau. Das ergibt: drei Frauen und ein Hund auf vier Sitzplätzen in der Stadtbahn.
Der Hund hat bezahlt, der darf da sitzen
«Muss denn der Hund da sitzen?», fragt nun die dritte Frau die zweite, die auf diese Frage gewartet hat. Solche Leute wollen immer Ärger, wollen sich immer zanken und Argumente austauschen. Liegt vielleicht daran, dass solche Leute oft besoffen sind. Besoffene sind immer gefährlich, auch wenn sie keine Zähne mehr haben. «Der Hund hat bezahlt, der darf da sitzen», erklärt die Frau ohne Zähne (viel zu laut und etwas lallend).
Ich habe mich das schon öfter gefragt: Müssen Hunde auch eine Fahrkarte kaufen? Kostet die dann weniger? Und wie kann ein Hund ein Ticket lösen – so ohne Geld und ohne Sprachfähigkeit? Ohne Hände. Und hat diese Frau mit Plastikbierflasche und ohne Zähne wirklich für ihren Hund ein Ticket erworben? Sie hat doch sicherlich nicht mal selbst eines, will ich ihr prompt unterstellen. Ich würde gern meine nicht vorhandene Autorität missbrauchen und mich als Kontrolleur ausgeben – verbleibe aber observierend an Ort und Stelle. Was soll das auch? Was bilde ich mir ein?
Die dritte Frau, die offenbar lebensmüde ist und ebenfalls Streit sucht, redet nun auf die Frau ohne Zähne ein. Uns Zuhörern fällt es zunehmend schwer, die Worte zu verstehen. Da ist viel Wut im Spiel. Die erste Frau mit Filzhut bleibt derweil ruhig sitzen und tut so, als würde das Streitgespräch nicht passieren. Sie ist eins mit der Bahn, dem Sitz, dem Universum. Und ich muss hier stehen, denkt ein Mann, der den ganzen Tag in einem Bürokabuff sitzen und auf den Bildschirm starren muss. Der Hund gähnt. Ich auch. Alle gähnen.
«Ich will hier nicht mehr sitzen!», schreit die Frau ohne Zähne plötzlich, steht auf und schultert ihren Rucksack. Passt sich gut, ist ohnehin ihre Station. Der Hund hopst vom Sitz und läuft seinem Frauchen hinterher. Er weiß es nicht besser. In der Bahn herrscht große Erleichterung. «Die geht jetzt erst mal ihr Methadon holen», vermutet ein Mann mit Vollbart. Seine Begleiterin nickt und lacht. Sie hat noch alle Zähne im Kiefer stecken. Wobei ich nicht ausschließen kann, dass ihr die Weisheitszähne entfernt worden sind. Aber das ist irrelevant. Auf dem Platz, auf dem der Hund saß, sitzt nun niemand. Auch der Platz der zahnlosen Frau bleibt leer.