Erste Reise mit Kleinkind

30. August 2023 · Leipzig

Eine Beerdigung führt uns gen Osten, wir reisen mit dem IC an. Diese Zugfahrt ist aufregender als unsere bisherigen: Das erste Mal reisen wir mit Kleinkind. Wie wird der brandneue Sohn seine erste Zugfahrt finden? Wird er die Bahn hassen oder lieben lernen? Pünktlich ist der Zug jedenfalls: Er steht schon da, als wir eintreffen. Die Fahrt beginnt in Hannover und endet in Leipzig.

Rasch noch einen Kaffee kaufen, dann einsteigen, unsere Plätze suchen, der Zug ist angenehm leer. Wir haben den 4er mit Tisch gebucht. Drei Sitze sind unsere, denn der Sohn bekommt einen eigenen Sitz, obwohl er noch gar nicht sitzen kann. (Sein Ticket und die Reservierung sind kostenlos.) Ein mittelalter Mann fragt, ob er sich zu uns setzen kann, in den 4er. «Nein», sagt meine Frau entschieden. Dieser Tisch gehört uns. Noch schläft der Sohn in seiner Trage, schlummert ganz friedlich. Er ist aber eine tickende Zeitbombe, denn jederzeit könnte er aufwachen und losweinen, losheulen, losjaulen.

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Ewige Ruhe

16. Mai 2023

Der Wind unterbricht die Ruhe des Waldes, er streicht durch das Blattwerk und die Blätter applaudieren. Wir haben uns hier versammelt, um gemeinsam Abschied zu nehmen: Da steht die Urne mit der Asche meiner Oma. Da steht auch ein großes Foto von ihr, auf dem sie lacht. Sie war ein lieber Mensch – sie war die liebste Oma.

Mein Opa sitzt auf einer Holzbank zwischen meinem Vater und meiner Tante. Wir befinden uns auf einem Waldfriedhof. Es ist ein friedlicher Ort, der nicht so bedrückend ist wie die üblichen Friedhöfe, auf denen düstere Grabsteine stehen (mit traurigen Engeln aus Stein). Mit Gruften und Gräbern. Im Waldfriedhof liegen die Verstorbenen neben den Bäumen in der Erde, und an den Bäumen sind die Namen angebracht auf kleinen Schildern.

Die Bäume rascheln, die Sonne scheint an den Wolken vorbei. Der Baum, neben dem Oma nun ihre ewige Ruhe finden wird, leuchtet saftig grün. Wir stehen an ihrem Grab mitten im Wald, nehmen Abschied, werfen Erde und Blüten in das Loch, in dem die Urne ruht. Mach’s gut!

Endgültig

1. Mai 2023

Müde denke ich, dass ich in der kommenden Woche noch einmal Oma im Krankenhaus besuchen sollte. Dann fällt mir ein, dass sie gestorben ist. Dass im Krankenhaus nur noch ihr Körper liegt. Die Hülle, das Gefäß; Zellen und Muskeln und Organe. Schon komisch, dass jemand einfach nicht mehr da ist, aber vor einer Woche noch da war. Dass ich mit ihr gesprochen habe und dass das jetzt nicht mehr geht – und es nie mehr gehen wird. Die Endgültigkeit ist nicht einfach zu akzeptieren: Meine Oma wird zum Beispiel meinen Sohn niemals kennenlernen. Er wird von seiner Uroma nur aus Erzählungen erfahren, sie auf Fotos sehen.

Meine eigenen Urgroßeltern haben in Hamburg gelebt, ich habe frühe Erinnerungen an sie, an ihre Wohnung, an den Hamburger Hafen, die Brücken dort. Ich war zu Besuch mit Oma und Opa, es waren die Eltern von meiner Oma, die nun gestorben ist. Komischerweise hat sich die Erinnerung festgebrannt, wie ich da in Hamburg auf dem Klo sitze. Es muss eine echte Erinnerung sein, denn es gibt davon kein Foto. Wie meine Uroma ins Badezimmer kommt und das Fenster aufreißt …

Ich weiß auch noch, wie meine Mutter mir abends sagte, dass mein Uropa gestorben sei. Konnte ich nicht fassen – aber ich war auch erst Zehn oder so. Ich saß auf dem Teppich, da saß ich gern. Saß da auf einer Decke, umringt von Spielzeug; manchmal lief der Fernseher, manchmal gab es Thunfischpizza, von der ich den Geruch mochte, aber nicht den Geschmack.

Als mein Vater morgens anrief, wusste ich sofort, dass Oma gestorben sein muss.

Hier bin ich doch!

28. April 2023

An diesem Morgen ist meine Oma gestorben. Überraschend war das zwar nicht, sie hatte bereits eine Weile im Krankenhaus gelegen. Doch zwischenzeitlich hatte es wieder gut ausgesehen, weil die Medikamente endlich gewirkt hatten. Da war eine zarte Hoffnung. Doch dann kam der Rückfall, eine plötzliche Verschlechterung. Am Ende hat es nicht gereicht: Meine Oma ist 82 Jahre alt geworden.

An einem traurigen Tag wie heute fühlen sich die alltäglichen Aufgaben völlig banal an, all die Kleinigkeiten, die zu erledigen sind. Wenn jemand stirbt, wird deutlich, wie viel Zeit man selbst verschwendet – als Lebender, der das Glück hat, noch alles machen zu können. Da sitzen wir aber und denken nach über all den Bullshit, der eigentlich keine Bedeutung hat. That’s life.

Plötzlich wirkt es geradezu wahnsinnig, wie etwa der Paketbote durch die Straße hetzt, wie er sich stresst, wie der Zeitdruck ihm im Nacken sitzt. Links und rechts hasten Menschen durch die Gegend, holen hier was ab, müssen dort etwas erledigen. Da sind so viele Termine und ausgedachte Verpflichtungen, die uns ablenken von den Dingen, die eigentlich wichtig sind. Wie egal alles aber ist, wird klar, wenn sich der Tod bemerkbar macht, wenn er aufschreit und brüllt: Hier bin ich doch! Abgelenkt und betäubt lässt sich die Absurdität des Lebens viel einfacher ertragen. Heute aber nicht.

Das letzte Geleit

3. Januar 2019 · Nürnberg

Es riecht etwas nach Rauch. Der Raum ist kalt, draußen liegt noch Schnee. Schweigend stehen die Männer und Frauen nebeneinander. In schwarze Wintermäntel gehüllte Körper. Manche von ihnen atmen schwer. Ich sehe in fremde Gesichter und schaue auf das Linoleum; es ist grau meliert und mehr nicht. In der Ecke stehen zwei Pflanzen mit länglichen Blättern. Außerdem steht da eine Urne. In dieser Urne ruhen die gemahlenen Aschereste von meinem Großvater, und die Urne steht auf einem Tisch, und dieser Tisch steht in diesem Raum, und wir stehen in diesem Raum unter rechteckigen Neonleuchten.

Die Decke ist gräulich, die Wände sind es auch. Dort stehen Stühle, aber niemand will sitzen. Niemand will reden. Nur der freie Redner redet, hält seine Rede, denn das ist sein Job. «Setzen Sie sich doch», bittet er – und wir setzen uns doch. Der bestellte Redner kannte meinen Opa nicht, redet aber so, als hätte er ihn gut gekannt. An der Wand hängt ein schwarzes Kruzifix an einem Nagel. Am Kreuz hängt der abgemagerte und gemarterte Jesus. Nägel in seinen Handflächen, er leidet ewig. Hat mein Opa überhaupt an Gott geglaubt? Ich weiß es nicht, bezweifle es.

Der Redner lässt sein Leben an uns vorbeiziehen, zählt gewissenhaft die wichtigsten Stationen auf. Beim Lebensjahr vertut er sich jedoch und muss korrigiert werden. In der Hand hält er eine Ledermappe und liest eine Biografie vom Blatt ab, vieles lässt er aber weg. Die düsteren Kapitel bleiben geschlossen – wir erinnern uns an die schönen Zeiten. Zum Abschluss laufen zwei Lieder von Udo Jürgens. Die Friedhofsmitarbeiterin unterdrückt ein Gähnen.

Jemand hat seine Urne vom Tisch genommen, sie steht nicht mehr da. Ich wollte ein Foto von ihr machen; ich weiß nicht, warum. Jetzt ist es zu spät. Egal. Wir verlassen den Raum, machen uns auf den Weg. Hinter dem Gebäude liegen alte Holzkreuze auf einem Haufen. Liegen da kreuz und quer, ineinander verkeilt. Aufgelöste Gräber, aufgelöste Erinnerungen.

Wir stehen vor seinem Grab, auf dem bunte Kränze liegen. In Liebe. Wir denken an dich. Für immer unvergessen. Lügen, denn natürlich wird mein Opa irgendwann in Vergessenheit geraten – wir alle werden nicht in ewiger Erinnerung bleiben.

Den ganzen Morgen lang war der Himmel grau gewesen. Doch jetzt reißt die Wolkendecke plötzlich auf und die Sonnenstrahlen lassen den Grabstein aufleuchten. Ein Zeichen, alle sind sich sicher – Gott habe Humor! Nur ein Zufall, denke ich. Gott ist tot, das weiß ich. Jeder wirft eine Handvoll kalte Erde in das Loch, sie prasselt auf den schwarzen Deckel der Urne. Am Rand stehen die beiden Friedhofsmitarbeiter und rauchen. Als wir gehen, schütten sie das Loch zu und begraben die Urne, in der die Reste von meinem Großvater liegen. Ich weiß, dass ich nie wieder zurückkehren werde.