Eine Erinnerung taucht in meinem Kopf auf. Wir saßen in Westerland, saßen in einer gemütlichen Ferienwohnung. Wir schauten das Dschungelcamp im TV und ruhten uns aus. Es war herrlich. Draußen war es kalt und dunkel. Da war es still, nur die raschelnden Bäume waren zu hören, manchmal ein bellender Hund. Tagsüber fuhren wir mit dem Bus über die Insel, nach Rantum, nach Kampen, nach Hörnum. Ein wenig herumlaufen, etwas essen und dann wieder nach Hause. Aufs Sofa. Einmal waren wir im Kino, wir konnten zu Fuß gehen. Ein kleiner Kinosaal und Popcorn und kaum Leute. Zwei Wochen im Winter auf Sylt, zwei Wochen pure Entspannung. Das war wunderbar.
Im ICE nach Hamburg, dort in den IC 2310 nach Westerland umsteigen. Im zweiten Zug haben wir ein Kinderabteil nur für uns – meine Frau und ich mit unserem lieben Sohn. Er kann da herumkrabbeln, spielen und laufen lernen. Wir haben sechs Sitze für uns und können die Schiebetür schließen. Besser als die erste Klasse – allerdings gibt es keinen Kaffee an Bord, also steige ich in Niebüll aus, laufe den Zug entlang und kaufe Kaffee im Bahnhof: einen mittelmäßigen Cappuccino, der mich immerhin wach hält. Der Verkäufer will mir noch ein süßes Teilchen andrehen, aber ich verzichte. (Kenne ich so auch nicht von mir.) In Westerland angekommen, laufen wir zur Ferienwohnung. Der ganze Ort besteht scheinbar nur aus Ferienwohnungen, die im Winter alle leer stehen. Unsere Unterkunft ist etwas seltsam: die Schlafzimmer befinden sich im Keller, man kann beim Schlafen also nicht hinausschauen. Draußen wiegt der Wind die Bäume, das Meeresrauschen ist zu hören.
In dieser Woche regnet es immer mal wieder, einen Tag hört es gar nicht mehr auf. Also gehen wir im Regen ins Zentrum, essen Pizza in der L’Osteria. Der Sohn isst Brei im Hochstuhl. Es ist für uns das erste Mal, dass wir den Sohn im Restaurant mit Brei füttern. Vor dem Besuch plagte uns kurz die Unsicherheit, ob sie in der L’Osteria wohl einen Hochstuhl haben werden. Hatten sie. Nur Wickeltische gab es nicht überall.
Mit dem Bus erkunden wir die Insel, dank Deutschlandticket müssen wir keine Fahrkarten mehr kaufen. (Als wir im Januar 2023 auf Sylt entspannten, mussten wir zunächst die erstaunlich vielen Tarifzonen studieren und zu viel Geld für Tickets zahlen.) Wir fahren nach Hörnum (essen im Straend), nach Rantum und nach Keitum. List und Kampen lassen wir dieses Mal aus.
Im Kontorhaus sind wir sozusagen leichtsinnig: Gehen mit dem Sohn (acht Monate ist er alt) in den Ruheraum, wo sie Tee, Sandwiches, Scones, Shortbread und Kuchen servieren. Ein schöner Ort, im Hintergrund läuft Jazz. Hier verweilen Lehrerpaare und sind weird, hier verweilen Vogelliebhaber, die mit dem Fernglas am Tisch am Fenster sitzen und (hoffentlich) Vögel beobachten, oder die Schafe auf der Wiese. Da sind ältere Herrschaften, die nicht gern sehen, dass unser Sohn auf dem Ledersofa herumklettert. Wir fühlen uns trotzdem sehr wohl, das liegt an der lieben Art der Bedienung. Unser Sohn lächelt und winkt den anderen Besuchern zu, Herzen schmelzen. Nur einige Männer haben kalte Herzen, sie starren regungslos ins Nichts und schwelgen in alten Erinnerungen, als die Welt noch in Ordnung war. Für sie jedenfalls.
Ich mampfe Shortbread und trinke japanischen Tee (Benifuuki), während der Sohn den Teppich genau untersucht. Zwischendurch habe ich aber das Verlangen, laut zu brüllen, weil es hier so verdammt still und friedlich ist, weil sich die Menschen so gewählt ausdrücken – ich will schreiben: «Fuck you all!». Lasse es aber sein und schlürfe summend den köstlichen Tee, der pro Kännchen ausgedachte 8,20 Euro kostet. Danach wieder raus, wir gehen zu Fuß nach Haus. Dort ist das Internet so langsam wie 1999, es ist grausam.
In Rantum ist es sinnvoll, zuerst bei Abby’s eine Brezel zu essen; die kostet aber 12 Euro (sic). Eine Mikrowelle haben sie dort nicht, da alle Speisen selbst gekocht werden, argumentiert der mutmaßliche Chef, als wir ihn fragen, ob er den Brei für den Sohn aufwärmen könne. Nach Cappuccino und Mandelkuchen machen wir einen Spaziergang rüber zur Sylter Kaffeerösterei, wo ich einen Flat White trinke und Florentiner vernasche. Anschließend laufen wir noch ein Stück weiter gen Norden und steigen an der Jugendherberge Dikjen-Deel wieder in den Bus ein. So bekommt man den Tag gut herum, allerdings meldet sich abends der Hunger, die Brezel hält nicht lange satt. Unsere Unterkunft hat komischerweise keinen Ofen – wie gern hätte ich eine ehrenlose Dr. Oetker verdrückt.
Wir sind auf Sylt – ohne Auto. Wir nehmen also den Bus, um die Insel zu erkunden. Fürs Fahrrad ist es zu kalt, haben wir beschlossen. Glücklicherweise wohnen wir in der Nähe des ZOB in Westerland, von dort fahren die Busse an alle Enden der Insel.
Eine Fahrt nach Rantum dauert 11 Minuten und kostet 2,95 Euro pro Person, nach Kampen kostet es ebenso viel. Tagestickets gibt es auch, aber dann nur für sämtliche Zonen, die kosten knapp 11 Euro pro Person. Erstaunlicherweise gibt es auf Sylt zehn Zonen: Westerland befindet sich in Zone 4, List in Zone 1, Hörnum in Zone 7, Morsum in Zone 10. Hinzu kommen die Stadtbuslinien A, B und C, die ausschließlich in Westerland und Tinnum unterwegs sind.
Rüdiger kann leider nicht schweigen
Heute fahren wir nach Kampen: Im Bus sitzen Schülerinnen und Schüler, da sitzen auch noch ein paar Rentner und da steht ein Mann in neuwertiger Kleidung herum. Es steigen ein: Sabine und ihr Ehemann Martin sowie ihr gemeinsamer Freund Rüdiger, dessen Frau vor einem Jahr verpufft ist. Sie fahren sonst niemals Bus, deshalb ist diese Fahrt aufregend.
Sie stehen mitten im Weg und versperren den Ausstieg. Rüdiger knallt mir seinen Rucksack in die Fresse. Sie reden wirres Zeug, kommentieren jedes Gestrüpp. Normalerweise sind Busfahrten meditativ. Nicht diese. Ich schaue voller Abscheu aus dem Fenster und lausche dem Brummen des Motors. Draußen rauscht die Welt vorbei, drinnen würde eine angenehme Stille herrschen. Menschen würden friedlich dösen. Doch Rüdiger kann seine Fresse nicht halten.
Rüdiger kann die Fresse nicht halten
Endlich findet er einen Sitzplatz: Rüdiger setzt sich. Wir steigen aus, der Bus fährt weiter, endlich herrscht Ruhe. Niemand da, es ist Januar. Dann geht eine Kreissäge an, weil Männer die Häuser herrichten für den Frühling und Sommer, wenn die Massen wieder auf die Insel strömen. Wir gehen zum Strand, es ist herrlich dort.
Stets enttäuschend ist ein Cappuccino aus dem Kaffeevollautomaten. Was zu Hause vielleicht noch in Ordnung geht, ist im Restaurant und vor allem im Café eine traurige Kapitulation: Sie versuchen es gar nicht erst; sie machen es sich gleich leicht und minimieren jedes Risiko. Es muss nur jemand auf einen Knopf drücken, den Rest erledigt der Automat. Die Bedienung trägt das seelenlose Kaffeegetränk dann herüber, stellt es vor mich hin: Bitte schön! Zwei braune Punkte im Milchschaum verraten: Hier hat sich niemand an Latte Art versucht.
«Schämen sollten Sie sich!»
Der Cappuccino kostet trotzdem 4,50 Euro. Und er schmeckt langweilig, gewöhnlich, banal. Die Kaffeebohnen sind generische Industrieware, verbrannt und verkohlt. In dem Café, in dem ich sitze, sind die Bohnen sogar schon gemahlen gewesen. Ich konnte dabei zuschauen, wie die Café-Mitarbeiterin das Kaffeepulver aus der Packung in die Maschine kippte. Bohnengeklacker war nicht zu hören. Ein Café, das sich nicht die Mühe macht, guten Kaffee mit einem Siebträger zu kredenzen, erfährt meine Missbilligung. «Schämen sollten Sie sich!», könnte ich rufen, aber ich denke es nur, die Kritik bleibt ungehört (und steht nun hier).
Das Café befindet sich in bester Lage in Westerland, auf Sylt. Alles ist teuer, der Kaffee also auch, und dann ist es langweiliger Standard aus dieser langweiligen Mistmaschine. Ich erkenne sie wieder: Der gleiche Vollautomat stand auch im Hotel in Hamburg am Frühstücksbuffet, und ich musste diesen Automaten selbst bedienen, also auf einem Touchscreen auswählen, ob ich einen Cappu wollte oder doch einen Latte M. Ich nahm Letzteren und ballerte einen zweiten Espresso rein. Morgens muss der Kaffee kein Gourmet-Kaffee sein, seine Hauptaufgabe ist, mich ins Leben zu kicken, mich wach zu machen. (Der Filterkaffee im Hotel war übrigens ungenießbar.)
Nachmittags aber geht es um den Genuss, dann freue ich mich über einen ausgezeichneten Flat White oder Cappuccino. Den bekam ich vorgestern in der Sturmhaube in Kampen. Auf dem Parkplatz parkten Porsches, im Restaurant kostete das eine Gericht mit Rindfleisch fast 50 Euro; I shit you not. (Ich nahm aber die Currywurst für 17,50 Euro.) Zum Nachtisch bestellte ich also einen Cappu – und der war wirklich lecker, der war köstlich, der war eine Wohltat. Denn hier machten sie sich die Mühe und bedienten die dampfende Höllenmaschine, die druckvoll Wasser durch die frisch gemahlenen Kaffeebohnen drückte, stieß, presste. So muss es doch sein – so ist es leider nicht immer, vor allem nicht in Deutschland.