Ewige Ruhe

16. Mai 2023

Der Wind unterbricht die Ruhe des Waldes, er streicht durch das Blattwerk und die Blätter applaudieren. Wir haben uns hier versammelt, um gemeinsam Abschied zu nehmen: Da steht die Urne mit der Asche meiner Oma. Da steht auch ein großes Foto von ihr, auf dem sie lacht. Sie war ein lieber Mensch – sie war die liebste Oma.

Mein Opa sitzt auf einer Holzbank zwischen meinem Vater und meiner Tante. Wir befinden uns auf einem Waldfriedhof. Es ist ein friedlicher Ort, der nicht so bedrückend ist wie die üblichen Friedhöfe, auf denen düstere Grabsteine stehen (mit traurigen Engeln aus Stein). Mit Gruften und Gräbern. Im Waldfriedhof liegen die Verstorbenen neben den Bäumen in der Erde, und an den Bäumen sind die Namen angebracht auf kleinen Schildern.

Die Bäume rascheln, die Sonne scheint an den Wolken vorbei. Der Baum, neben dem Oma nun ihre ewige Ruhe finden wird, leuchtet saftig grün. Wir stehen an ihrem Grab mitten im Wald, nehmen Abschied, werfen Erde und Blüten in das Loch, in dem die Urne ruht. Mach’s gut!

Endgültig

1. Mai 2023

Müde denke ich, dass ich in der kommenden Woche noch einmal Oma im Krankenhaus besuchen sollte. Dann fällt mir ein, dass sie gestorben ist. Dass im Krankenhaus nur noch ihr Körper liegt. Die Hülle, das Gefäß; Zellen und Muskeln und Organe. Schon komisch, dass jemand einfach nicht mehr da ist, aber vor einer Woche noch da war. Dass ich mit ihr gesprochen habe und dass das jetzt nicht mehr geht – und es nie mehr gehen wird. Die Endgültigkeit ist nicht einfach zu akzeptieren: Meine Oma wird zum Beispiel meinen Sohn niemals kennenlernen. Er wird von seiner Uroma nur aus Erzählungen erfahren, sie auf Fotos sehen.

Meine eigenen Urgroßeltern haben in Hamburg gelebt, ich habe frühe Erinnerungen an sie, an ihre Wohnung, an den Hamburger Hafen, die Brücken dort. Ich war zu Besuch mit Oma und Opa, es waren die Eltern von meiner Oma, die nun gestorben ist. Komischerweise hat sich die Erinnerung festgebrannt, wie ich da in Hamburg auf dem Klo sitze. Es muss eine echte Erinnerung sein, denn es gibt davon kein Foto. Wie meine Uroma ins Badezimmer kommt und das Fenster aufreißt …

Ich weiß auch noch, wie meine Mutter mir abends sagte, dass mein Uropa gestorben sei. Konnte ich nicht fassen – aber ich war auch erst Zehn oder so. Ich saß auf dem Teppich, da saß ich gern. Saß da auf einer Decke, umringt von Spielzeug; manchmal lief der Fernseher, manchmal gab es Thunfischpizza, von der ich den Geruch mochte, aber nicht den Geschmack.

Als mein Vater morgens anrief, wusste ich sofort, dass Oma gestorben sein muss.

Hier bin ich doch!

28. April 2023

An diesem Morgen ist meine Oma gestorben. Überraschend war das zwar nicht, sie hatte bereits eine Weile im Krankenhaus gelegen. Doch zwischenzeitlich hatte es wieder gut ausgesehen, weil die Medikamente endlich gewirkt hatten. Da war eine zarte Hoffnung. Doch dann kam der Rückfall, eine plötzliche Verschlechterung. Am Ende hat es nicht gereicht: Meine Oma ist 82 Jahre alt geworden.

An einem traurigen Tag wie heute fühlen sich die alltäglichen Aufgaben völlig banal an, all die Kleinigkeiten, die zu erledigen sind. Wenn jemand stirbt, wird deutlich, wie viel Zeit man selbst verschwendet – als Lebender, der das Glück hat, noch alles machen zu können. Da sitzen wir aber und denken nach über all den Bullshit, der eigentlich keine Bedeutung hat. That’s life.

Plötzlich wirkt es geradezu wahnsinnig, wie etwa der Paketbote durch die Straße hetzt, wie er sich stresst, wie der Zeitdruck ihm im Nacken sitzt. Links und rechts hasten Menschen durch die Gegend, holen hier was ab, müssen dort etwas erledigen. Da sind so viele Termine und ausgedachte Verpflichtungen, die uns ablenken von den Dingen, die eigentlich wichtig sind. Wie egal alles aber ist, wird klar, wenn sich der Tod bemerkbar macht, wenn er aufschreit und brüllt: Hier bin ich doch! Abgelenkt und betäubt lässt sich die Absurdität des Lebens viel einfacher ertragen. Heute aber nicht.

Gegenwind

19. April 2023

Abermals im Krankenhaus, um Oma zu besuchen. Die Frau im Nebenbett ist weg (siehe hier), dort liegt nun eine andere Frau, die ungefähr 65 Jahre alt ist. Sie sei Borussia-Dortmund-Fan, erzählt sie unaufgefordert. Sie käme nämlich aus der Nähe von Dortmund und sei dort mit ihren zwei Brüdern aufgewachsen, deshalb sei sie sehr an Fußball interessiert. «Ich trage auch schwarz-gelb!», ruft sie begeistert. Ich höre höflich zu und gebe generische Antworten. Nur: Es interessiert mich überhaupt nicht. Keine Ahnung, wer die Frau ist, keine Ahnung, warum Leute Fußballfans sind – ich bin es nun mal nicht.

Und eigentlich besuche ich meine Oma. Während ich mit ihr spreche, mischt sich die Frau aus dem Nebenbett immer wieder ein. Verbalisiert ihre Meinung. Dann telefoniert sie, dann kommt der Arzt und er sagt: «Sie muss ich leider rausschicken.» Er meint mich, ich muss auf dem Flur warten, während er seiner Arbeit nachgeht. Auf dem Flur ist es ruhig, es riecht nach Kaffee. Nur vereinzelt sind Stimmen zu hören. Eine Krankenpflegerin lässt plötzlich etwas polternd fallen. «Randalierst du wieder?», ruft eine andere.

Der Arzt ist fertig, ich darf wieder rein. Die Frau aus dem Nebenbett erzählt, dass sie mit dem Wohnmobil in die Eifel gefahren sei, mit ihren Kindern. Aha. «Schön da», sage ich automatisch. – «Ja.»

Meine Oma sitzt da in ihrem Bett. Auf dem Fensterbrett stehen Blumen, die meine Frau und ich ihr beim vorherigen Besuch mitgebracht hatten. Ich tausche das Wasser aus und zupfe die Blüten zurecht. Ich erzähle Oma von ihren Postkarten, die sie mir über die vergangenen 25 Jahre geschickt hat. Ein- oder zweimal im Jahr ging’s nach Südtirol. Ich habe die Karten von meiner Oma aufgehoben, wie sämtliche Postkarten, die ich je bekommen habe. Die ältesten Karten sind aus den frühen 90er-Jahren: Cornelia schrieb von Borkum, Jonas von Usedom, Daniel aus Dänemark. Und Oma und Opa schrieben immer aus Südtirol und von der Ostsee – nur einmal schrieben sie aus Ägypten, das ist auch schon mehr als 20 Jahre her. Die Zeit rieselt uns zwischen den Fingern hindurch. Eben noch wollten wir so viel erleben, und jetzt ist es einfach zu spät.

Draußen drückt eine Böe gegen das Fenster. Windig sei es heute, kommentiert die Frau im Nebenbett. «Stimmt», sage ich, «dann muss ich gleich ordentlich strampeln.» Bin nämlich mit dem Fahrrad hier. Dann gibt es Abendessen, ich verabschiede mich. Oma lächelt, bis bald.

Nur zu Besuch

14. April 2023

Am Nachmittag mit dem Rad zum Krankenhaus, Oma auf Station besuchen. Im Fahrstuhl befindet sich ein Mann im Rollstuhl, ein Rollstuhlfahrer im Fahrstuhl. Gleichzeitig mit mir betritt eine Frau die Kabine. Der Mann fragt die Frau, in welchen Stock sie fahren möchte. Doch die Frau starrt schweigend Löcher in die Luft, sie merkt nicht, dass der Mann mit ihr redet. Oder redet er mit mir? Nein: Der Rollstuhlfahrer schaut nicht mich an, sondern die Frau, die nun endlich merkt, dass mit ihr gesprochen wird: «In die 6», erklärt sie. «Ich habe auch schon gedrückt.» – «Ach so», sagt der Rollstuhlfahrer. Er klingt zufrieden.

Mann im Rollstuhl im Fahrstuhl, gezeichnet im Stil von Ralph Steadman, aber erzeugt von Midjourney
«Ach so.»

Dass ich in die 3. Etage möchte, behalte ich für mich, es geht niemanden etwas an, ich möchte dieses Geheimnis für mich behalten, schulde niemandem Auskunft. Andererseits kann das jeder sehen, denn ich habe rasch auf den Etagenknopf gedrückt. Der Fahrstuhl hebt ab, wir fliegen. Ankunft, dritte Etage, ich steige aus. «Er hätte ruhig sagen können, dass er in die Dritte will!», grummelt der Mann zum Abschied, der Frau zugewandt. Schon seltsam, denke ich, was kümmert es ihn?

Dieses Krankenhaus ist modern, groß und hell. Im Zimmer am Ende des Flurs liegt meine Oma. Sie liegt dort in einem Zweierzimmer, im Nebenbett liegt eine ältere Frau. Vor ihr steht ein Bilderrahmen, darin ein Foto von einer jüngeren Frau – ist das sie selbst, aber damals? Die Frau schnauft und hustet, röchelt und stöhnt. Der Ausblick aus dem Fenster ist ganz schön: Der Fluss ist zu sehen, die Bäume, der Radweg. Es beginnt, zu regnen. Oma liegt da, wartet ab. Sie besitzt kein iPad, keinen Netflix-Account. Sie liegt im Bett, sitzt im Bett, schläft im Bett. Zwischendurch kommt der Krankenpfleger vorbei, tauscht den Infusionsbeutel aus, macht seine Arbeit. In solchen Momenten denke ich, dass ich einen totalen Quatschjob habe. Sitze den ganzen Tag vor dem Computer und tippe Blabla in die Tastatur. So ist das nun mal.

Nach einer halben Stunde verabschiede ich mich. Ich darf gehen, Oma muss noch bleiben. Hoffentlich aber nicht mehr lange, sie freut sich auf ihr Zuhause. Der Regen wird stärker, ich werde klitschnass, als ich mit dem Rad nach Hause fahre.