Um 17:05 Uhr kommt unser Sohn zur Welt. Abends muss ich allein nach Hause, denn es gibt kein freies Familienzimmer, in dem auch ich hätte übernachten dürfen. Erst am nächsten Tag wird ein Zimmer frei, also übernachte ich das erste Mal in einem Krankenhaus. Fünf Nächte zusammen mit meiner Frau und dem brandneuen Baby, ich als Gast, ohne Armband. Das bekommen nur Patienten. Ich hätte jederzeit einfach gehen können, nach Hause – zurück ins alte Leben. ¶ Das neue Leben beginnt in Station 6, in Zimmer 359: Morgens um 7 Uhr kommt die Ärztin rein; eben noch geträumt, nun steht eine Fremde in unserem «Schlafzimmer» und fragt meine Frau aus. Ich liege schlaftrunken daneben, mache mich unsichtbar wie ein Kobold. ¶ Die vergangene Nacht war heiß und kurz und ungewöhnlich, sie war anstrengend und seltsam. Um 3 Uhr morgens öffnete ich unsere Zimmertür und lief den langen Flur entlang. Es war windig wie auf einem Gipfel. Ein angenehm kühler Durchzug. Auf dem Flur herrschte ein reges Treiben, Schwestern liefen herum, brachten Brotscheiben. Da sind andere frische Eltern, deren Babys kreischen. Irgendwie beruhigend: Wir sind nicht allein. ¶ Im sogenannten «Kinderzimmer» stand alles parat: Pre-Milch für den Notfall, perfekt auf Temperatur gebracht und gehalten – ich musste das Fläschchen lediglich aus dem Gerät nehmen, sodann war die Milch verzehrfertig. Daneben war der Wickelbereich mit großem Waschbecken und vielen Schubladen mit Dingen, die nötig sind, um ein Baby zu säubern und zu wickeln. Da lag das kleine Wesen und weinte und pinkelte und kackte. Zwischendurch schliefen wir sozusagen. Und das ist jetzt so. ¶ Zu früh bringen sie das Abendbrot, manchmal ist das Mittagessen nicht einmal verdaut, da kommt schon ein neues Tablett (mit Brot und Wurst und Käse). Draußen ist schönes Wetter, perfektes Wetter. Die Sonne brennt, es ist heiß, 30 Grad C. Ich schaue aus dem Fenster: ein prächtiger Sonnenuntergang, der Himmel glüht. Die Menschen kehren vom Baden zurück. Sonnenbrände, glückliche Gemüter. Es ist ein verlorener Sommer.
Abermals im Krankenhaus, um Oma zu besuchen. Die Frau im Nebenbett ist weg (siehe hier), dort liegt nun eine andere Frau, die ungefähr 65 Jahre alt ist. Sie sei Borussia-Dortmund-Fan, erzählt sie unaufgefordert. Sie käme nämlich aus der Nähe von Dortmund und sei dort mit ihren zwei Brüdern aufgewachsen, deshalb sei sie sehr an Fußball interessiert. «Ich trage auch schwarz-gelb!», ruft sie begeistert. Ich höre höflich zu und gebe generische Antworten. Nur: Es interessiert mich überhaupt nicht. Keine Ahnung, wer die Frau ist, keine Ahnung, warum Leute Fußballfans sind – ich bin es nun mal nicht.
Und eigentlich besuche ich meine Oma. Während ich mit ihr spreche, mischt sich die Frau aus dem Nebenbett immer wieder ein. Verbalisiert ihre Meinung. Dann telefoniert sie, dann kommt der Arzt und er sagt: «Sie muss ich leider rausschicken.» Er meint mich, ich muss auf dem Flur warten, während er seiner Arbeit nachgeht. Auf dem Flur ist es ruhig, es riecht nach Kaffee. Nur vereinzelt sind Stimmen zu hören. Eine Krankenpflegerin lässt plötzlich etwas polternd fallen. «Randalierst du wieder?», ruft eine andere.
Der Arzt ist fertig, ich darf wieder rein. Die Frau aus dem Nebenbett erzählt, dass sie mit dem Wohnmobil in die Eifel gefahren sei, mit ihren Kindern. Aha. «Schön da», sage ich automatisch. – «Ja.»
Meine Oma sitzt da in ihrem Bett. Auf dem Fensterbrett stehen Blumen, die meine Frau und ich ihr beim vorherigen Besuch mitgebracht hatten. Ich tausche das Wasser aus und zupfe die Blüten zurecht. Ich erzähle Oma von ihren Postkarten, die sie mir über die vergangenen 25 Jahre geschickt hat. Ein- oder zweimal im Jahr ging’s nach Südtirol. Ich habe die Karten von meiner Oma aufgehoben, wie sämtliche Postkarten, die ich je bekommen habe. Die ältesten Karten sind aus den frühen 90er-Jahren: Cornelia schrieb von Borkum, Jonas von Usedom, Daniel aus Dänemark. Und Oma und Opa schrieben immer aus Südtirol und von der Ostsee – nur einmal schrieben sie aus Ägypten, das ist auch schon mehr als 20 Jahre her. Die Zeit rieselt uns zwischen den Fingern hindurch. Eben noch wollten wir so viel erleben, und jetzt ist es einfach zu spät.
Draußen drückt eine Böe gegen das Fenster. Windig sei es heute, kommentiert die Frau im Nebenbett. «Stimmt», sage ich, «dann muss ich gleich ordentlich strampeln.» Bin nämlich mit dem Fahrrad hier. Dann gibt es Abendessen, ich verabschiede mich. Oma lächelt, bis bald.
Am Nachmittag mit dem Rad zum Krankenhaus, Oma auf Station besuchen. Im Fahrstuhl befindet sich ein Mann im Rollstuhl, ein Rollstuhlfahrer im Fahrstuhl. Gleichzeitig mit mir betritt eine Frau die Kabine. Der Mann fragt die Frau, in welchen Stock sie fahren möchte. Doch die Frau starrt schweigend Löcher in die Luft, sie merkt nicht, dass der Mann mit ihr redet. Oder redet er mit mir? Nein: Der Rollstuhlfahrer schaut nicht mich an, sondern die Frau, die nun endlich merkt, dass mit ihr gesprochen wird: «In die 6», erklärt sie. «Ich habe auch schon gedrückt.» – «Ach so», sagt der Rollstuhlfahrer. Er klingt zufrieden.
Dass ich in die 3. Etage möchte, behalte ich für mich, es geht niemanden etwas an, ich möchte dieses Geheimnis für mich behalten, schulde niemandem Auskunft. Andererseits kann das jeder sehen, denn ich habe rasch auf den Etagenknopf gedrückt. Der Fahrstuhl hebt ab, wir fliegen. Ankunft, dritte Etage, ich steige aus. «Er hätte ruhig sagen können, dass er in die Dritte will!», grummelt der Mann zum Abschied, der Frau zugewandt. Schon seltsam, denke ich, was kümmert es ihn?
Dieses Krankenhaus ist modern, groß und hell. Im Zimmer am Ende des Flurs liegt meine Oma. Sie liegt dort in einem Zweierzimmer, im Nebenbett liegt eine ältere Frau. Vor ihr steht ein Bilderrahmen, darin ein Foto von einer jüngeren Frau – ist das sie selbst, aber damals? Die Frau schnauft und hustet, röchelt und stöhnt. Der Ausblick aus dem Fenster ist ganz schön: Der Fluss ist zu sehen, die Bäume, der Radweg. Es beginnt, zu regnen. Oma liegt da, wartet ab. Sie besitzt kein iPad, keinen Netflix-Account. Sie liegt im Bett, sitzt im Bett, schläft im Bett. Zwischendurch kommt der Krankenpfleger vorbei, tauscht den Infusionsbeutel aus, macht seine Arbeit. In solchen Momenten denke ich, dass ich einen totalen Quatschjob habe. Sitze den ganzen Tag vor dem Computer und tippe Blabla in die Tastatur. So ist das nun mal.
Nach einer halben Stunde verabschiede ich mich. Ich darf gehen, Oma muss noch bleiben. Hoffentlich aber nicht mehr lange, sie freut sich auf ihr Zuhause. Der Regen wird stärker, ich werde klitschnass, als ich mit dem Rad nach Hause fahre.