Nachdem Drop-off in der Kita kann ich jetzt nicht mehr ins Café gehen: Ich muss jetzt wieder zur Arbeit, ich muss ins Büro. Muss mit der Bahn fahren. Mit den anderen, die wohin müssen. Ich sitze da und die Bahn fährt; einer schaut sich ein Video auf dem Handy an, Kopfhörer hat er keine, der Ton ist blechern. Studentinnen reden über ihre Hausarbeit, Doktorarbeit. Ich bin müde und starre aus dem Fenster. Gern hätte ich ein Buch dabei, aber ich hab’s vergessen, es liegt zu Hause; gern wäre ich woanders, gern wäre ich: zu Hause. Ich rumple durch die Zeit.
Am Montag sitze ich allein im Büro, da ist ein Fleck auf dem Stuhl. Fast 2000 ungelesene E-Mails liegen in meinem Postfach. Dienstag muss ich den lieben Sohn mittags aus der Kita abholen – sie zersägen Bäume im Hinterhof, ein Kettensägenmassaker, ein Höllenlärm, die Kinder können nicht schlafen. Also mache ich eine lange Mittagspause und der Sohn schläft in der Trage; ich laufe durch den Stadtteil wie vor ein paar Wochen schon, als ich meine Elternzeit damit verbrachte, den schlafenden Sohn durch die Stadt und durch den Wald zu tragen. Mittwoch: Arbeit; Donnerstag: Arbeit; Freitag: Arbeit. Dann Feierabend, und die erste Arbeitswoche ist geschafft; die erste Woche mit Kita und Arbeit und Einkaufen und Terminen und Mails und Aufgaben und–
Ich sitze in der Bahn, da sitzen die anderen Gestalten, Figuren, Menschen, Hunde. Manche lesen sogar ein Buch; ich habe meins schon wieder vergessen. Es liegt zu Hause. Die Sonne scheint. Der Sohn schläft noch, als ich ihn in der Kita abholen möchte.
Heute ist es kühl draußen, also sitze ich im Bistro, ich sitze oben und esse Chili con Carne und lese nebenbei einen Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. Derweil macht der Sohn in der Kita seinen Mittagsschlaf; ich bin auf Abruf, falls was schiefläuft. Während der Kita-Eingewöhnung, die nun bereits einen Monat läuft, kann ich im Café sitzen, im Bistro speisen oder herumlaufen oder auf einer Parkbank beobachten, was die anderen Menschen um diese Zeit so treiben. Da sind die Säufer, die saufen, lachen und labern; da sind die Businesskasper in ihren Anzügen, die Termine habe und deren Schnürsenkel offen sind. (Zwei Kerle tragen rote Sneaker zu ihren Anzügen – haben sie sich abgesprochen?) Da sind außerdem die Handwerker und Bauarbeiter, das sind die Obdachlosen und Rentner, da sind andere Väter, die wohl auch die Zeit totschlagen müssen.
An vielen Tagen war das Wetter so schön, dass es fast nervte. Fast dreißig Grad, immer Sonnenschein. Jetzt beginnt der Herbst: Es riecht danach und die Luft ist deutlich kühler und das Licht ist warm. Die Bäume rascheln und werfen Blätter und Kastanien ab. Anfangs war ich noch angespannt, weil ich nicht wissen konnte, ob das mit dem Mittagsschlaf klappen würde. Die Erzieherinnen schickten mir immer mal wieder Fotos vom Sohn, wie er am Tisch sitzt und isst, wie er spielt – wie er tatsächlich schläft.
Nach dem Essen streune ich umher, gehe in die Innenstadt. Dort ist viel los. Und der Himmel ist wieder blau, ehe der Regen kommt. Ich stehe vor einem Schaufenster und glotze: Da sollen hässliche Champagnerbecher satte 300 Euro kosten. Eine wohlhabende Oma kommt und drängelt mich weg, sie will auch mal schauen. Ist ja ein Schaufenster, also schaut sie. Ich gehe weiter, vorbei an den Geschäften, an den Marken, an gelangweilten Verkäufern, die hier ausharren. In einigen Wochen arbeite ich auch wieder. Verbringe meine Zeit auch im Büro, mit Kollegen, die ich nicht alle mag. Erledige dies und das, sitze da und schaue auf den Bildschirm. Ich gehe weiter, dahinten ist der Buchladen. Dann muss ich umkehren und den Sohn abholen. Er hat Feierabend.
Während der Kita-Eingewöhnung kann ich an Orten verweilen, an denen ich sonst nicht bin. Da sitze ich und lese, schaue oder schreibe. Ich habe eine Zeitschrift dabei, den New Yorker, und lese, ich habe mein MacBook dabei und schreibe. Weil es kein WLAN gibt, bleibt es offline. Das ist herrlich: Ich kann nicht sinnlos im Internet surfen, sondern nur schreiben. Oder schauen, wer da noch so ist.
Eine Parkbank weiter versammeln sich die Säufer. Sie saufen und lachen. Einer erzählt was, er redet Russisch. Einer repariert sein Fahrrad. Die einzige Frau in der Gruppe geht pinkeln. Es gibt ein dreckiges Dixi-Klo anbei, da geht sie hin. Heute ist es wolkig. Manchmal jedoch sticht das Sonnenlicht an den Wolken vorbei. Keine Affenhitze mehr. Die Säufer lachen und klackend machen sie neue Flaschen auf.
Das Wetter ist in Ordnung. Lediglich ein paar graue Wolken ziehen vorbei, die durchaus Regen abwerfen könnten. Aber sie lassen es. Sie verkneifen es sich. Ich sitze auf einer Parkbank und habe vor, einen Joghurt zu essen. Ich habe Besteck dabei, das in einem schmalen Kasten ruht, wie die Knochen in einem Sarg. Klappernde Knochen aus Blech.
Doch dann taucht ein Fremder auf und setzt sich auf die nebenstehende Bank. Ein Unding: Es sind zahlreiche andere Bänke frei, es besteht keine Platznot. Wir befinden uns auf dem Gartenfriedhof, der aber längst nicht mehr als ein solcher fungiert, sondern als Park etwas Ruhe bietet. Es ist nur so, dass wir von Straßen umzingelt sind – eine Totenstille herrscht hier deshalb nicht.
Wir sind sozusagen zu zweit, der Fremde und ich. Das macht mich wütend: Ich verstaue meinen Joghurt in meinem Rucksack, schaue aufs Handy und stehe auf. Gehe. Setze mich auf eine andere Bank. Der Mann soll mich in Ruhe lassen. Da sitze ich also, es ist sogar etwas schöner hier. Ich esse meinen Joghurt.
Heute hatte der liebe Sohn seinen ersten Tag in der Kita. Ich mache die Eingewöhnung und kann mir (noch) nicht vorstellen, dass der Sohn eines Tages dort bleiben kann – allein, also ohne mich, ohne Mama, ohne uns. Die anderen Kleinkinder sind natürlich allein in der Kita, sie spielen, das ist für sie Routine. C. ist der Kneifer, das merke ich am eigenen Leibe. J. ist sehr freundlich, der sitzt da und baut Häuser aus Duplo.
Ich muss jetzt lernen, loszulassen. Soll mich an diesem ersten Tag etwas im Hintergrund halten, während der Sohn zaghaft diese neue Welt erkundet. Ganz zaghaft erst, dann forsch und mutig. Sogleich will er hoch hinaus – er stürzt, prallt mit der Stirn gegen eine Wand. Rumms! Oh. Eine Beule drückt sich aus seiner Stirn, seine erste richtige Beule. Bisher hatte er nur eine kleine Beule, die den Namen nicht verdient hat – zu schnell war sie wieder weg. Jetzt aber ist eine echte Beule zu sehen, ein bisschen blau wird sie auch schon. Der Sohn weint, die Erzieherin übergibt ihn mir. Ich tröste und beruhige, ich bin da für ihn. Alles nicht so schlimm.
Das war also der erste Tag in der Kita
«Das passiert», sagen die Leute, «er wird noch mehr Beulen bekommen», das sei doch ganz normal. Mag sein – doch es ist nicht so einfach, das hinzunehmen, die Situation einfach wegzulächeln oder was auch immer. Immerhin hat er sich schnell beruhigt, das schon, aber in meinem Kopf rattert es: Gehirnerschütterung! Hirnblutung! Intensivstation! Ich kann nicht anders, muss ans Schlimmste denken, muss das quasi durchspielen. Was, wenn? Die Beule ist jetzt da und ja, es wird nicht die letzte bleiben. Er spielt dann weiter, nähert sich der Erzieherin an. Das war also der erste Tag in der Kita. Eben noch, da lag der Sohn in seinem Nest und schlief. Und weinte. Und nuckelte. Und jetzt steht er da zwischen den anderen Kindern und schaut fasziniert zu.