Günther hat entschieden: Sie sollen es erfahren. Also betritt er am späten Nachmittag das kleine Lokal, baut seinen Leib vor dem Tresen auf und verkündet: «Ich brauche Fleisch.» Wurst. Steak. Mett. Die junge Frau hinterm Tresen mustert den Mann, wie er da vor ihr steht. Der Mann grinst. Er sieht in seiner beigefarbenen Weste und den braunen Ledersandalen sehr nach einem Deutschen aus, der Günther heißt und einen silbernen Mercedes fährt.
Der Mann fährt fort: «Aber da bin ich wohl im falschen Laden.» Er weiß das ganz genau, denn er hat das vegetarische Lokal mit voller Absicht aufgesucht – es ist im Grunde genommen ein schönes Hobby: Er geht in «solche Läden» und baut sich dort auf. Steht da, mit seinem Hängebauch über dem abgewetzten Ledergürtel, und stöhnt: «Ich habe richtig Lust auf Fleisch, wissen Sie?» Die junge Frau bleibt erstaunlich nett und schlägt vor, er möge doch den Bohnen-Burger probieren.
Er habe sogar schon einmal ein veganes Gericht probiert, erklärt er, aber das sei überhaupt nicht nach seinem Geschmack gewesen. Günther kann einfach nicht ohne Fleisch leben, er braucht es täglich bis zu dreimal am Tag. Als er das vegetarische Lokal verlässt, muss Günther kichern. Er liebt diese Auftritte, sie machen ihm so viel Spaß. Er steigt in seinen silberfarbenen Mercedes und braust davon.
Vietnamesische Imbisse sind normalerweise rasant: Kaum hingesetzt, schon steht das Essen dampfend auf dem Tisch. Nicht aber bei [unleserlich], der als verlockenden Zusatz «Express» auf dem Schild stehen hat. Hier saßen wir 40 Minuten dumm herum, weil der Koch nur langsam kochte. Unser brandneuer Sohn langweilte sich schnell, zappelte herum, quengelte und weinte. Innerlich formulierte er eine Zwei-Sterne-Rezension. Als das Essen dann endlich vor uns stand, war ich schnell enttäuscht: Die Erdnusssoße war wässrig und nicht cremig, sie war lasch im Geschmack und schmeckte fad. Sowieso fehlten die Gewürze, fehlte die Raffinesse. Erdnussstücke wären toll gewesen. Und Koriander.
Der Sohn kotzt zwischendurch auf den Boden
Der Mann am Nebentisch hingegen hasste Koriander, aufgeregt rief er: «Sie da? Können Sie die Suppe bitte, bitte ohne Koriander machen?» Die Bedienung – eine mittelalte, kleine Frau – sagte: «Ja, jaa.» Diese Frau flitzte durch den Gastraum, wirbelte herum, verstellte Tische und trug Gläser mit Getränken zu den Gästen. Unser Sohn kotzte zwischendurch auf den Boden, auf die Fliesen. (Ein Mann kam an unseren Tisch und sagte, das Kind habe sich übergeben. Oh, erwiderten wir und wischten den weißen Fleck weg.)
Irgendeine Frau betrat das Lokal, den Imbiss, sie fragte, ob sie sich «an diesen Tisch da» setzen könnte. Die Bedienung verneinte energisch, sie können sich doch in die Pflanzen hocken. Der Tisch sei nämlich reserviert, in 20 Minuten würden Gäste eintreffen. Die Frau sagte: «Zwanzig Minuten – das schaffe ich doch problemlos, schließlich steht draußen Express auf Ihrem Schild und beim Vietnamesen geht’s stets schnell.» Na gut, die Frau durfte sich setzen – und sie bekam ihr Essen tatsächlich zügig serviert. Ein genialer Trick, alle anderen – auch wir – mussten weiter warten. Die Frau schlang die Nudeln herunter und goss sich die Cola Light in den Schlund. Nach wenigen Minuten war sie fertig. Sie zahlte und ging. Im Lokal herrschte Stille.
Am Nebentisch sitzen meine Frau und ich – in elf Jahren. Da sitzen Eltern mit ihrer Tochter, die Tochter ist also elf Jahre alt. Allesamt sitzen wir beim Vietnamesen in der Fußgängerzone. Das Mädchen ruft: «Leute, Umfrage! Was soll ich nehmen?» Sie zählt die Gerichte auf, die infrage kommen; Mutter und Vater stimmen ab, sie nimmt schließlich die «E3», Erdnusscurry mit knusprigem Hühnchen.
Leicht übergriffig, aber egal
Unser Sohn isst nichts, er schläft tief und fest in seiner Trage. Die Mutter am Nebentisch starrt, gafft, guckt. Endlich fragt sie: «Wie alt?» – «Zehn Wochen», erwidern wir. Die Mutter meint, unser Sohn sei zu klein. Aha, denke ich. «In der Trage sieht er kleiner aus», erklärt meine Frau. Die Mutter schaut skeptisch, ihr Blick sagt: Glaube ich nicht, der Junge ist zu schmal, zu klein – eindeutige Sache! Leicht übergriffig, aber egal.
Die Mutter am Nebentisch starrt noch ein bisschen, dann will ihre Tochter die Aufmerksamkeit zurück, außerdem erzählt der Vater jetzt einen Witz: «Deutsche mögen ja keine Holländer», beginnt er. Nach der Pointe lacht niemand und die Tochter ruft: «Schrottwitz!» Dann sagt sie: «Darf ich mir heute etwas gönnen?» Die Mutter sagt: «Du musst aber aufessen.» Die Tochter verspricht, die ganze Portion zu schaffen. Ob sie ihr Versprechen hält, wissen wir nicht – wir bezahlen und gehen.
Obwohl auf unserem Briefkasten der Hinweis klebt, bitte keine Werbung einzuwerfen, lag heute das Menü von China Wan Wan (Name geändert) im Briefkasten. Es gibt Hühnchen und Ente und Reis und Bratnudeln – all die Standards der «chinesischen» Imbissküche. Bei Google hat China Wan Wan lediglich 3,2 Sterne. Begeistert ist niemand.
Irgendwie tut mir der Imbiss aber ein wenig leid: die Armen! Sie wollen die Hoffnung schlicht nicht aufgeben, haben abermals tausende Menüs drucken lassen und sie in der ganzen Stadt verteilt. Die Hoffnung stirbt zuletzt, doch bestellen sollten wir dort trotzdem nicht: Immer wieder regnet es 1-Sterne-Bewertungen – vor fünf Jahren schon. Langweiliges Essen, kalt angekommen, wenn überhaupt. Früher hat Wan Wan auf Kritik noch geantwortet und Besserung gelobt: «Wir versuchen, unseren Service zu verbessern.»
Leider haben die guten Vorsätze nicht geholfen: «Es schmeckt einfach nicht», protestierte E. jüngst. Ein anderer Nutzer kritisierte vor Jahren schon, dass die Wan-Wan-Werbung in seinem Briefkasten gelandet sei. «Was hat das mit einer Bewertung zu tun?», fragte der Wan-Wan-Inhaber patzig zurück.
Er säuselt was von «Fusion», aber es riecht ganz komisch
Ich bin kurz neugierig, will wissen, wer hinter dem China-Imbiss steckt: Das Impressum der Website führt einen Dimitri auf – das klingt ja gar nicht asiatisch! Er betreibt außerdem noch einen Pizzalieferdienst, der auch nur eine Bewertung von 3,2 Sterne bei Google bekommen hat. Tatsächlich ist es so, dass sich der chinesische Imbiss und der Pizzalieferant dieselbe Adresse teilen. Da steht also der liebe Dimitri in seinem seltsamen Imbiss, links dampfen die Hawaii-Pizzen, rechts spritzen die fettigen Bratnudeln. Dimitri säuselt etwas von «Fusion Kitchen», aber es riecht ganz komisch. Doch er ist stolz und bestellt immer wieder Menüs, verteilt sie in der ganzen Stadt – irgendwann werden die Menschen es schon verstehen. Nur was eigentlich?
Es ist schon spät, wir haben Hunger. Doch jetzt noch kochen? Auf keinen Fall. Wir haben Lust auf Quesadillas, die soll uns jemand bringen. Also geschwind bei Lieferando bestellt – eine Stunde Wartezeit. Es ist Sonntag, die Leute sitzen zu Hause, schauen Blödsinn auf Netflix. Alle haben Hunger. Die Zeit vergeht, dann endlich: Der Fahrer sei wohl unterwegs. Das Live-Tracking zeigt, wie er durch die Stadt fährt. Er ist in unserer Nachbarschaft, er ist in unserer Straße.
Wie ein alter Opa, der Kinder beschimpfen will, trete ich auf den Balkon (der zur Straße geht) und gaffe. Schaue. Gucke. Will dem Fahrer winken. Aber da ist: niemand. Komisch. Das Live-Tracking behauptet, er stünde direkt vor unserem Haus. Dann springt die Anzeige um: «A. hat deine Bestellung geliefert.» Die Frage ist nur: Wem hat er die Quesadillas geliefert? Uns jedenfalls nicht. Aber wir sind doch hungrig, so hungrig.
Was wir nicht essen: Quesadillas
Es ist fast 22 Uhr, als ich unten auf der Straße stehe und verzweifelt nachschaue. Nicht, dass der Fahrer irgendwo herumliegt. Angefahren, hingefallen, was weiß ich? Aber hier ist weiterhin: niemand. Der Wind weht, es ist milder geworden, 7 Grad Celsius. Bald ist endlich Frühling, ich freue mich.
Später sitzen wir auf dem Sofa und essen Joghurt und Äpfel und Bananen. Was wir nicht essen: Quesadillas.
In der Nacht wache ich verwirrt auf und denke: Der Fahrer kommt gleich. Aber er kommt nicht, er kommt nie. Lieferando-Fahrer A. ist verschwunden, er ist durch ein Wurmloch in das Jahr 3023 gerauscht. Dort lebt er jetzt. Glücklich, satt und zufrieden.
Das Brötchen fällt der Mutter aus der Hand und landet direkt auf dem Boden. Dort kullert es entlang, als sei es auf der Flucht, dann fällt es schließlich um und bleibt liegen. Das Brötchen liegt auf dem Boden der U-Bahn-Station – nicht von irgendeiner U-Bahn-Station, sondern dem Knotenpunkt Hannovers, dem Kröpcke. Die Mutter hebt das Brötchen auf, und ich erschrecke: Will sie das noch essen? Selbstmord wäre das, nicht einmal in die Hand genommen hätte ich das verseuchte Kleingebäck. Und sie will das essen? – Nein, das Kind soll, es ist sein Brötchen, das Kind schüttelt jedoch den Kopf.
«Du isst das jetzt!», fordert die Mutter. – «Nein», insistiert das Kind, dessen rechtes Brillenglas zugeklebt ist.
Das Brötchen habe Geld gekostet, argumentiert die Mutter. – «Na und», erwidert das Kind, dem der aktuelle Brötchenpreis natürlich völlig wumpe sein kann. Die Mutter gibt auf, hat erkannt, dass der Junge lieber Weingummi essen will. Kann man dem Jungen nicht verübeln: Das Brötchen ist kontaminiert, ist eine Gefahr für Leib und Leben, ist das reinste Biogift.
Hier unten in der U-Bahn riecht’s nach Pisse. Und das liegt daran, dass Obdachlose in die Ecken und Kanten urinieren; Besoffene und Punks mit Bierblasen, die sich einen Dreck darum scheren, was andere über sie denken. Einerseits sollen Kinder ja im Dreck spielen, sagen die Leute, und den Dreck auch mal essen, damit das Immunsystem gestärkt wird. Andererseits isst die Mutter jetzt das Brötchen. Hat ja Geld gekostet.