«Das Kännchen, da vorn! Guck doch mal um die Ecke! Ach, das gibt’s doch nicht», ruft die Frau und steht auf. Große Augen hinter gewölbten Brillengläsern. Ihr Mann in heller Jeansjacke wirkt orientierungslos. Er weiß überhaupt nicht, was seine Frau von ihm will. «Da ist das Kännchen doch!», schnauzt sie und nimmt das Kännchen vom Counter. Gießt Milch in ihren Kaffee. Dann setzen sie sich zurück an den Tisch, die Frau und ihr überforderter Mann. Sie trinken schweigend.
Günther hat entschieden: Sie sollen es erfahren. Also betritt er am späten Nachmittag das kleine Lokal, baut seinen Leib vor dem Tresen auf und verkündet: «Ich brauche Fleisch.» Wurst. Steak. Mett. Die junge Frau hinterm Tresen mustert den Mann, wie er da vor ihr steht. Der Mann grinst. Er sieht in seiner beigefarbenen Weste und den braunen Ledersandalen sehr nach einem Deutschen aus, der Günther heißt und einen silbernen Mercedes fährt.
Der Mann fährt fort: «Aber da bin ich wohl im falschen Laden.» Er weiß das ganz genau, denn er hat das vegetarische Lokal mit voller Absicht aufgesucht – es ist im Grunde genommen ein schönes Hobby: Er geht in «solche Läden» und baut sich dort auf. Steht da, mit seinem Hängebauch über dem abgewetzten Ledergürtel, und stöhnt: «Ich habe richtig Lust auf Fleisch, wissen Sie?» Die junge Frau bleibt erstaunlich nett und schlägt vor, er möge doch den Bohnen-Burger probieren.
Er habe sogar schon einmal ein veganes Gericht probiert, erklärt er, aber das sei überhaupt nicht nach seinem Geschmack gewesen. Günther kann einfach nicht ohne Fleisch leben, er braucht es täglich bis zu dreimal am Tag. Als er das vegetarische Lokal verlässt, muss Günther kichern. Er liebt diese Auftritte, sie machen ihm so viel Spaß. Er steigt in seinen silberfarbenen Mercedes und braust davon.
Ich möchte nach Hause. Doch ich stehe an, stehe in der Schlange, stehe an Kasse #1. In meinem Warenkorb liegen drei Dinge: Milch, Backpulver und Sour Cream. In meinem Warenkorb liegt nicht: Kaffee – den gab es nicht. Ich bin in diesem Supermarkt, weil es nur hier diesen Kaffee gibt. Eigentlich. Meine Anwesenheit in diesem Supermarkt ist überflüssig. Ich möchte nach Hause.
Die ältere Dame kauft einen Träger Schnaps
Die ältere Dame ganz vorn kauft einen Träger Schnaps, kleine Flaschen Kräuterschnaps, knapp 8 Euro, sie zahlt bar (mit einem Zehner). Kasse #2 und #3 sind vakant, die Schlange wird immer länger. Ältere Menschen quatschen gern mit Kassierern, sie sind einsam, ich muss Verständnis aufbringen, möchte aber dennoch nicht hier sein, nicht an Kasse #1 stehen. Ich muss Verständnis dafür haben, dass Menschen auf den Cent genau mit Münzen bezahlen möchten, weil sie sonst keinen Überblick über ihre Finanzen haben. Sie heben am Anfang des Monats 4000 Euro ab und packen sie in eine Schublade; wenn die leer ist, ist sie eben leer. Dieses verrückte Land mit seinem Bargeld. Ich möchte nach Hause.
Die Zeit vergeht, ich könnte andere Dinge machen, die mehr Spaß machen. Als ich endlich bezahlen und gehen darf, bin ich müde und frustriert, es will heraus, ich sage laut, was ich denke: «Dieser beschissene Laden!» Menschen ignorieren dieses Outburst, aber ich weiß, dass es ihnen auch so geht. Dieser Supermarkt ist notorisch schlecht geführt. Ich hasse diesen Laden wirklich und betrete ihn nur, weil es hier diesen dummen Kaffee gibt, den es heute nicht gibt.
Das erste Mal auf dem Spielplatz: Der Sohn ist eigentlich zu jung dafür, er kann nicht einmal laufen. Oder stehen. Wir sind trotzdem hier.
Eben noch beim Bäcker einen mittelmäßigen Cappuccino gekauft, der mir die ganze Zunge verbrannt hat – viel zu heiß, schmeckt leider nicht. Ein seltsamer Mann dreht seine Runden, umrundet rauchend den Spielplatz. Langsam. Schlurfend. Er hat kein Kind dabei, nur seine Zigarette und einen abgewetzten Anorak. Im Rindenmulch liegen Kippenreste – immerhin keine Spritzen. Nur ein paar rote Gummibären. Der liebe Sohn will das alles essen. Aber er darf nicht. Soll nicht.
Männer spielen Fußball im Käfig, sie bolzen gegen Kinder. Andere Männer schubsen an, bei den Schaukeln. Höher, immer höher. Mädchen kreischen, Jungs fallen hin. Das wird bald unsere Welt sein, aber heute sind wir zu früh dran, der liebe Sohn weiß nicht so recht, was er tun kann. Soll. Er krabbelt dann immerhin über die Wiese. Da liegen auch Kippenstummel herum. Anbei sitzen zwei Männer auf der Mauer, sie sitzen auf Pappen, damit ihre Ärsche nicht frieren. Sie sind zum Saufen hier, plopp, die erste Bierflasche geht auf. Na dann: Prost, ihr Säcke!
Es fällt Regen auf die Stadt und wir gehen wieder, verlassen diese Welt, lassen sie hinter uns, vorbei noch an der Pommes- und Burgerbude, die gleich neben dem Spielplatz steht. Eltern müssen dem kleinen Leander erklären, dass er keine Pommes darf, sondern die mitgebrachten Brokkoliröschen essen muss.
In der U-Bahn diskutieren vier Mädchen darüber, ob sie einen Deutschen heiraten würden. Ne, eher nicht, lautet die einhellige Meinung. Daneben sitzen zwei Frauen am Fenster, eine alte und eine mittelalte Frau, sie machen nichts und hören dem Gespräch interessiert zu. Belauschen die Mädchen. Sie wirken leicht irritiert oder so, vielleicht belustigt – ich kann es nicht genau erkennen, die Gesichter sind schlecht beleuchtet. Die Bahn ist alt, sie rumpelt seit fast fünfzig Jahren durch die Stadt.
Dann aber erklärt eines der Mädchen, dass ihre Tante einen Deutschen geheiratet habe – und dieser Mann sei «sehr sozial», lobt sie. Die anderen Mädchen nicken: Stimmt, Deutsche sind sozialer als andere, finden sie. Die Kartoffeln, die Almans. Und doch gibt es zahlreiche Gründe, die gegen deutsche Ehemänner sprechen, das ist völlig klar. Leider muss ich dann aussteigen, werde also nie erfahren, ob die Mädchen zu einem Fazit gekommen sind.
Mit Kind übers Wochenende nach Goslar: Spät frühstücken, durch den Sprühregen stapfen und abends fernsehen.
Am Freitag fahren wir mit dem Regional-Express nach Goslar. Wir sind spät dran, der Zug steht schon im Gleis und der ganze Zug ist praktisch voll. Auf den Zweier-Sitzen sitzen einzelne Personen, neben denen Rucksäcke und Taschen auf den Sitzen ruhen. So ist der Zug quasi voll, obwohl er in Wahrheit nur halb voll ist – oder halb leer, je nachdem. Das ist wie bei einer Rolltreppe, auf der alle Leute auf der rechten Seite stehen, damit links Leute vorbeilaufen können. Aber niemand kommt angelaufen.
Wir stiefeln durch den ganzen verfickten Zug und sitzen dann weit vorn auf Klappsitzen, wo auch die Fahrräder stehen. Unserem Sohn gefällt das, er mustert interessiert die Passagiere. Abfahrt, die Fahrt dauert eigentlich nur eine Stunde und fünf Minuten, aber sie dauert natürlich länger. Es ist 16:04 Uhr, als wir schließlich den Bahnhof in Goslar hinter uns lassen. Dann weiter zu Fuß, die schmalen Fußwege entlang. Wir nächtigen im Hotel «Zur Börse», unser Zimmer #4 liegt im Erdgeschoss und geht nach hinten raus. Ausblick auf den Parkplatz. Der Rezeptionist zeigt uns alles und deutet zwischendurch aus dem Fenster: Da sei die Kaiserpfalz! Aha, denke ich, keine Ahnung, was die Kaiserpfalz ist – ich bin erstaunlich schlecht informiert. Goslar ist für mich einfach eine Stadt am Harz. (Am späten Abend lese ich Wikipedia-Einträge durch: Goslar; Kaiserpfalz; Profanbau.)
WeiterlesenReise an die Ostsee, nach Timmendorfer Strand. Hätten wir doch lieber ein anderes Urlaubsziel gewählt.
Der Kurpark im Regen. Ein Plakat mahnt zur Rücksichtnahme: Hunde müssen bitte an die Leine. Die mittelalte Frau, die uns entgegenkommt, führt einen dunklen Hund aus. Ein Biest, ein Tier, ein Monster. Schwarz und bullig, mit kräftigem Gebiss. Dieser Höllenhund ist natürlich nicht angeleint. Mir wäre das sogar egal – allerdings springt mich das Vieh an, ich habe unseren Sohn vor der Brust, seine Beinchen baumeln links und rechts aus der Babytrage. Möglicherweise hat der Hund sie gesehen und wollte ein köstliches Füßchen abbeißen. Als Snack. Als Wegzehrung.
Was ist denn hier los?
Ich spüre, wie der Hund mit seinen Pfoten gegen meine Hüfte drückt, drehe mich geschwind zur Seite, etwas perplex, ob des plötzlichen Angriffs. Kann mich aber auf den Beinen halten. Die mittelalte Frau packt derweil den Hund am Halsband, reißt ihn zur Seite, weg von den baumelnden Beinchen. «Ich habe hier ein Baby!», rufe ich noch. – Die Frau murmelt etwas wie: «Ja, ja.» Sie zuckt die Schultern, geht weiter. Ich bleibe stehen, ich habe große Lust, dieser Frau meine Meinung zu geigen. «Nimm jetzt deinen Scheißhund an die Leine!», rufe ich. Das tut erstaunlich gut, aber nur kurz, denn es bringt gar nichts, weil die Frau meinen Meltdown einfach ignoriert. Wie genial! Wir gehen rasch weiter, kommen wieder an einem Plakat vorbei: Bitte die Hunde an die Leine nehmen; Rücksicht nehmen. Dass ich die Contenance verloren habe, ist mir noch einige Stunden später peinlich.
WeiterlesenUnsere Fahrt mit der Westfalenbahn dauerte eine Stunde länger als geplant. Grund hierfür war eine Signalstörung. Stau auf der Schiene. Gestrandet in Stadthagen. Da standen wir auf dem Bahnsteig, glücklicherweise durften wir aussteigen und uns die Beine vertreten. Ein Kerl stellte sich direkt vor mich, um zu rauchen; ich hatte den lieben Sohn in der Trage vor meinem Bauch hängen und verließ rasch die Rauchwolke. Dem Raucher wünschte ich die Post an den Hals. Ein ICE überholte uns, fuhr auf dem anderen Gleis an uns vorbei, ballerte durch den Provinzbahnhof. Ich überlegte, welches Auto ich erwerben könnte, dann ging die Fahrt endlich weiter. Ein wenig zumindest: Dorf für Dorf ging es langsam voran in Richtung Bückeburg. Immerhin waren die Toiletten in Ordnung.
Auf der Rückfahrt war die Westfalenbahn wieder ziemlich voll. Ein Mann hatte es sich im 4er gemütlich gemacht, er saß am Fenster, sein Rucksack saß am Gang, seine Füße ruhten auf dem Polster, die Füße vom Mann, nicht vom Rucksack, der hatte keine Füße. Der Mann las, es war schön (für ihn). Wir – meine Frau und ich – zwängten uns mit unserem lieben Sohn in der Trage in einen engen 2er. «Geht schon, lesen Sie bitte in Ruhe weiter!» Der Mann schaute. Dann las er tatsächlich weiter – und stieg aus. Für zwei Stationen hatte er den 4er blockiert. Na und? Es setzte sich ein anderer Mann in den 4er. Er starrte uns an. Gaffte. Stierte. Warum sitzen stets Freaks in meiner Nähe, fragte ich mich innerlich. Immer nur Weirdos. Immer nur Spinner. Immer, immer. «Ich geh pinkeln!», rief ich und machte mich auf den Weg. Das erste WC war defekt und abgesperrt, das zweite WC ebenfalls und das dritte WC auch. Das vierte Klo war geöffnet – ich fühlte mich wie ein Glückspilz.
An diesem Markttag haben wir Glück: Die Holzbank ist frei, die Bank mit dem Holztisch – ein praktisches Ensemble, um den soeben erworbenen Falafel-Wrap zu verspeisen. Da sitzen wir also auf der Bank und der Sohn liegt im Kinderwagen und denkt nach. Über sich und das Leben. Ich habe den Mund voller Wrap, als eine Frau auftaucht und ohne Umschweife fragt: «Wie alt?» Ohne Einstieg, ohne Begrüßung, ohne Vorstellung. Dass sie den Sohn meint, ist klar. Alle paar Minuten fragt jemand diese Frage. Eine rasche Antwort können wir der Frau aber nicht geben – wie gesagt, wir zerkauen Wraps. Mampfen. Schmatzen. Vertilgen. Das sieht die Frau eigentlich auch und dennoch schaut sie ungeduldig aus der gestreiften Wäsche. Sie ist etwa 60 Jahre alt. Sie trägt eine sportliche Sonnenbrille. Ich mag sie nicht. Sie möge verschwinden, denke ich heimlich. In der Hand hält sie einen Pappteller voller Gulasch. Endlich erhält sie die erwünschte Auskunft: «Drei Monate.» Aha. TSCHÜSS!
Sitzen Sie da noch ganz lange?
Die Frau geht endlich weiter, kehrt dann aber zurück. Sie wirkt unschlüssig, fragt dann: «Sitzen Sie da noch ganz lange?» Sie möchte unseren Platz haben, will den Platz besetzen, die Bank und den Tisch. Damit sie ihr Gulasch essen kann.
Wir sitzen noch keine drei Minuten hier, haben also ein gewisses Anrecht, hier zu verweilen, zumal wir bei keinem Marktbesuch bisher das Glück hatten, diesen Tisch besetzen zu können – es ist ein wunderschöner Tisch, hinter uns befinden sich die Fischstände, es riecht wie an der Küste. Das Meer, die Brandung. Möwen keifen: Moin!
Ob Sie da noch lange sitzen?!
«Hallo? Ob Sie da noch lange sitzen?!», keift die Frau ungeduldig. «Ja, weil meine Frau noch stillen wird», behaupte ich. Die Frau wirkt enttäuscht, wütend, genervt. Sie treibt sich herum, schleicht von einem Tisch zum anderen, doch die sind alle besetzt – überall lungern Eltern mit ihren Babys herum.
Schließlich hat sie doch noch Glück, sie kann sich auf einer Bank zwischen zwei Leute quetschen. Da hockt sie und frisst ihr Gulasch Schiebt es sich in die Gusche. Sie schaut zu uns rüber. Beobachtet uns. Stechender Blick. Die ganze Zeit. Sie ist besessen.
Der Sohn betrachtet derweil interessiert den Markt. Findet er toll, vor allem die Blätter der Bäume, die über unseren Köpfen im Wind rascheln.
Bürokratie macht mir immer Angst. Trotzdem habe ich es geschafft, endlich den Antrag fürs Elterngeld vollständig auszufüllen – das ging glücklicherweise über eine Website («ElterngeldDigital»), die ganz modern gestaltet ist. Kurz war ich begeistert, denn die Seite erweckte den Eindruck, alles könne digital vonstattengehen. Doch dann folgte rasch die Ernüchterung: Unser liebes Bundesland kann das leider nicht, der ganze Kram muss doch auf Papier zur Elterngeldstelle. Mehr als 50 bedruckte Blätter rauschten aus meinem Drucker. Fünfzig Seiten Papier.
Das eigentliche Antragsformular fürs Elterngeld ist 24 Seiten lang. Drei kuriose Fehler entdeckte ich im Dokument, die ich mir nicht erklären konnte. Die Website hatte die PDF-Datei erzeugt und meine eingetippten Daten und Fakten eingefügt. Nachträgliche Korrekturen waren jedoch nicht möglich: War der letzte Schritt auf der Website erreicht, gab es kein Zurück mehr. Also korrigierte ich die Fehler mit Photoshop, weil ich zu stur war, auch noch Adobe Acrobat zu abonnieren. Das angepasste Dokument samt der nötigen Nachweise trugen meine Frau und ich an einem sonnigen Tag zur Elterngeldstelle, um ein paar Euro Porto zu sparen. Außerdem brauchten wir Bewegung, der brandneue Sohn kam natürlich mit, er verschlief den Ausflug jedoch. Den Einwurf der Versandtasche feierten wir anschließend in einem Café, dort weinte der Sohn bitterlich: Er wäre beim Briefeinwurf gern wach gewesen. Er machte uns schwere Vorwürfe.
Bearbeitungsdauer: 15 Wochen. Das sind 105 Tage
Etwas lieblos fand ich die Mail, die einige Tage später in meinem Postfach eintrudelte: «Sehr geehrte Antragstellende, Ihr Benutzerkonto zu ElterngeldDigital wurde erfolgreich gelöscht.» Kein freundlicher Gruß, kein kleines Lob: «Danke, dass Sie Deutschland ein Kind geschenkt haben!» Und wieso wurde mein Konto eigentlich komplett gelöscht? Heute lag dann noch eine Eingangsbestätigung im Briefkasten, was uns ein wenig beruhigte. Das Schreiben verriet allerdings auch die durchschnittliche Bearbeitungsdauer: 15 Wochen. Das sind 105 Tage.
Nachtrag: Die Bearbeitung des Antrags hat schließlich knapp 17 Wochen gedauert.