Heute reicht die Schlange bis zu den Tiefkühltruhen. Endlich öffnet eine zweite Kasse. Die ältere Dame vor mir schiebt ihren Einkaufswagen rasch rüber. Sie schaut jedoch nicht, was vor und hinter ihr passiert, sieht deshalb nicht, wie sich die Frau vor ihr ebenfalls in Richtung zweite Kasse bewegt. Diese Frau – sie heißt Sabine von Klingenberg-Gummelsbach, genannt SKG – genösse sicherlich ein Vorrecht, vielleicht aber auch nicht. In deutschen Supermärkten gilt das Recht des Schnelleren. Ähnlich verhält es sich bei Linienbussen.
Die ältere Frau – sie heißt Rita Müller – legt ihre Waren auf das Warentransportband, während es sich der Kassierer in seinem Warenzellenkassenstand gemütlich macht und die Kasse hochfährt, einen komplexen Sicherheitscode eingibt und die Maschine zum Laufen bringt. SKG empfindet es derweil als einigermaßen ungerecht, dass Rita Müller, die eben noch hinter ihr stand, plötzlich vor ihr steht.
«Ich habe doch nur Quark», erklärt SKG etwas zu laut und etwas zu genervt. Geschwind baut sie sich vor dem Kassierer auf, der gesetzlich zu einer neutralen Haltung verpflichtet ist.
Das ist völlig egal, denn Rita merkt überhaupt nicht, wie sich Sabine von Klingenberg-Gummelsbach quasi vordrängelt, wenn es denn überhaupt ein Vordrängeln ist – genau genommen ist es das ja nicht, aber es ist kein Gutachter hier, der das zügig klären könnte. Rita legt konzentriert und mit aller Kraft sehr viel Spargel auf das Warentransportband: deutscher Spargel fürs Mittagessen, fürs Abendessen, fürs Frühstück. Helmut mag Spargel so gern. Es handelt sich um seine Leibspeise. Er und seine Frau Rita essen seit zwei Wochen jeden Tag nur Spargel, denn Helmut will es so, und seine Frau will ihren Männe glücklich und satt machen, weil das seit einhundert Jahren ihre Hauptaufgabe ist. Eigentlich hängt ihr der Spargel längst zum Hals raus – das wird sie später dem Kassierer unaufgefordert erläutern. Immerhin sei der gesund, wird sie sagen. Der Kassierer wird das mit einem «Aha» zur Kenntnis nehmen.
Sabine, die keinen Spargel mag, legt die beiden Quarkpackungen von Ja! vor den Spargel. Der Kassierer waltet seines Amtes und kassiert, zieht die Packungen über den Laserscanner. Piep, «Payback?», nein!
«Mein Mann hatte vor zwei Jahren einen mittelschweren Verkehrsunfall», berichtet Rita nun. Er habe Gas- und Bremspedal verwechselt, es war sogar ein Artikel in der Lokalzeitung erschienen, behauptet Rita und entfaltet prompt ein Papier, das sie nebenbei aus ihrem Portemonnaie zupfte. Es handelt sich tatsächlich um eine Farbkopie des besagten Zeitungsartikels. «Sehen Sie: sogar mit Foto!» Seit seinem Unfall könne Helmut keine Einkäufe mehr erledigen, erläutert Rita.
Der Kassierer bleibt bei seinem vagen «Aha» und kassiert wie in Trance. Rita hat keine Payback-Karte und auch keine andere Plastikkarte in ihrem Portemonnaie. Mit lauter Stimme beginnt sie, den Zeitungsartikel vorzulesen.