Wo eigentlich ein Mensch sitzen könnte, sitzt ein Hund, nämlich auf dem Fensterplatz in der Stadtbahn. Es ist richtig voll. Überall existieren müde Menschen, die Feierabend haben, die nach Hause wollen. So schnell wie möglich. Viele stehen, der Hund sitzt. Neben ihm sitzt eine Frau mit einem obszön großen Filzhut auf dem Kopf. Der ist schwarz. Die Lippen der Frau sind rot, ausgemalt mit Lippenstift. Auf den ersten Blick nehme ich an, dass der Hund zur Frau gehört. Das passt auch: Hund und Frau ergeben ein stimmiges Bild. Die Frau sieht so aus, als wäre das ihr Hund.
Doch dann füttert eine dritte Hand den Hund. Und die Hand kommt von gegenüber, wo eine andere Frau sitzt. Sie hat kurze Haare und nicht mehr alle Zähne im Kiefer. In der linken Hand hält sie eine Bierplastikflasche. Garantiert nicht alkoholfrei, man riecht das jetzt auch. Zu ihren Füßen liegt ein Rucksack, ein mitgenommenes Teil, verschlissen und ebenfalls übel riechend. Der Vollständigkeit halber sei abschließend noch eine dritte Frau erwähnt, die der Filzhut-Frau gegenübersitzt. Sie sitzt also neben der zahnlosen Frau. Das ergibt: drei Frauen und ein Hund auf vier Sitzplätzen in der Stadtbahn.
Der Hund hat bezahlt, der darf da sitzen
«Muss denn der Hund da sitzen?», fragt nun die dritte Frau die zweite, die auf diese Frage gewartet hat. Solche Leute wollen immer Ärger, wollen sich immer zanken und Argumente austauschen. Liegt vielleicht daran, dass solche Leute oft besoffen sind. Besoffene sind immer gefährlich, auch wenn sie keine Zähne mehr haben. «Der Hund hat bezahlt, der darf da sitzen», erklärt die Frau ohne Zähne (viel zu laut und etwas lallend).
Ich habe mich das schon öfter gefragt: Müssen Hunde auch eine Fahrkarte kaufen? Kostet die dann weniger? Und wie kann ein Hund ein Ticket lösen – so ohne Geld und ohne Sprachfähigkeit? Ohne Hände. Und hat diese Frau mit Plastikbierflasche und ohne Zähne wirklich für ihren Hund ein Ticket erworben? Sie hat doch sicherlich nicht mal selbst eines, will ich ihr prompt unterstellen. Ich würde gern meine nicht vorhandene Autorität missbrauchen und mich als Kontrolleur ausgeben – verbleibe aber observierend an Ort und Stelle. Was soll das auch? Was bilde ich mir ein?
Die dritte Frau, die offenbar lebensmüde ist und ebenfalls Streit sucht, redet nun auf die Frau ohne Zähne ein. Uns Zuhörern fällt es zunehmend schwer, die Worte zu verstehen. Da ist viel Wut im Spiel. Die erste Frau mit Filzhut bleibt derweil ruhig sitzen und tut so, als würde das Streitgespräch nicht passieren. Sie ist eins mit der Bahn, dem Sitz, dem Universum. Und ich muss hier stehen, denkt ein Mann, der den ganzen Tag in einem Bürokabuff sitzen und auf den Bildschirm starren muss. Der Hund gähnt. Ich auch. Alle gähnen.
«Ich will hier nicht mehr sitzen!», schreit die Frau ohne Zähne plötzlich, steht auf und schultert ihren Rucksack. Passt sich gut, ist ohnehin ihre Station. Der Hund hopst vom Sitz und läuft seinem Frauchen hinterher. Er weiß es nicht besser. In der Bahn herrscht große Erleichterung. «Die geht jetzt erst mal ihr Methadon holen», vermutet ein Mann mit Vollbart. Seine Begleiterin nickt und lacht. Sie hat noch alle Zähne im Kiefer stecken. Wobei ich nicht ausschließen kann, dass ihr die Weisheitszähne entfernt worden sind. Aber das ist irrelevant. Auf dem Platz, auf dem der Hund saß, sitzt nun niemand. Auch der Platz der zahnlosen Frau bleibt leer.