Ein Wochenende in Leipzig

17. Mai 2018 · Leipzig

Die Anreise verlief erstaunlich problemlos, wir hatten Glück, es gab keinen Stau auf den Autobahnen. Trotz des Feiertags – aber die Streber sind bestimmt alle schon am Mittwoch gefahren, oder nachts.

Im Hotel bekommen wir für Zimmer #127 einen Schlüssel mit dickem Schlüsselanhänger wie ganz früher. Er zerbeult die Hosentasche und drückt gegen mein Bein. Ich hätte den Anhänger einfach abhängen können, aber auf die Idee kam ich viel zu spät, und dann hätte ich sicherlich den Schlüssel prompt verloren. Nach dem Check-in zu den Großeltern meiner Frau1, die seit 60 Jahren in derselben Wohnung leben. Dort Kaffee und Kuchen als Mittagessen.

  1. Dieser Text entstand 2018, da waren wir – meine Frau und ich – noch gar nicht verheiratet. Bei der Überarbeitung habe ich nun aber «meine Frau» eingefügt, und ich lasse das jetzt so.

Am Abend nach Leipzig-Reudnitz: Abendessen im GreenSoul. Wir sitzen oben, ich bestelle den mediterranen Burger. Laut Speisekarte hat schon Martin Gore von Depeche Mode den veganen GreenSoul-Burger «vernascht». Er ist sehr gut, sehr lecker, vor allem das selbst gebackene Brioche-Brot mag ich. Der Patty besteht aus Kartoffeln und Aubergine und Paprika. Ich trinke ein Premium-Bier mit minimalem Etikett. Abschließend noch einen Minze-Tee an der Hotel-Bar getrunken.

Freitag

Frühstück gibt es werktags nur bis 9:30 Uhr. Um kurz vor 9 Uhr setzen wir uns an den letzten freien Tisch, der mitten im Raum steht. Es ist voll, überall wanken Menschen, die Cargo-Kurzhosen tragen, herum. Leute mit kecken Igelfrisuren. Männer mit kurzärmligen Karohemden. Bin ich durch ein Wurmloch gelatscht und auf Mallorca gelandet? Ist der Mann da mit dem absurden Bierbauch der nette Manfred aus Wuppertal? Und ist das da seine Frau Ute? Ute liest gern Kreuzworträtsel.

Die Brötchen sind schlimm. Der Kaffee ist dünn

Ich muss mich erst mal setzen und ausatmen. Kaffee trinken. Wach werden. Die Brötchen sind schlimm. Der Kaffee ist dünn. Es gibt kaum Obst, monieren die anderen – mir ist das erst mal egal. Ich sehe nur fürchterliche Tattoos. Tribals. Namen. Fraktur. Schädel. Kreuze. Gedränge bei den weißen Brötchen, Gedränge beim O-Saft, Gedränge bei den Marmeladen.

Geiseltalsee

Ausflug zum Geiseltalsee: Die Oma meiner Frau hat Geburtstag, sie wird 85. Wir wollen zur Feier des Tages mit dem Geiseltalexpress den See umrunden, von Braunsbedra nach Braunsbedra. Der Geiseltalexpress ist kein Zug, auch kein Express – er ist ein Auto, das sich als Lokomotive verkleidet hat. Hinten hängen zwei Anhänger dran, knallrot und gelb. Auf jede Bank passen eigentlich nur drei Leute, es sind aber vier vorgesehen. So lässt sich mehr Geld verdienen, nehme ich an. Die Fahrt kostet p. P. elf Euro.

In einer Stunde geht es los. Wir sitzen im «Besucherzentrum», wo es einen Imbiss gibt, der heißt «Bistró» mit so einem komischen Strich auf dem «o». Seltsam liest sich das. Wir sitzen draußen an einem großen Holztisch, sonnen uns, trinken Wasser. Und ich warte auf mein Fischbrötchen, das ich spontan bestellte. Das geschah an einem Fenster bei einer Frau. Hinter mir standen zwei Jungs. Der eine flüsterte: «Du bestellst», der andere aber erwiderte: «Nee, du!»

Am Tisch sitzt auch eine Fremde, die wohl gern Teil unserer Gruppe wäre. Wir sind 10 Menschen und ein Hund – die Schwiegereltern, Schwiegergroßeltern usw. Ganz interessiert lauscht die Fremde unseren Gesprächen, mischt sich gelegentlich auch mal ein. Nun ja. Sie hätte auch an einem 2er-Tisch sitzen können, zum Beispiel, aber sie legte es darauf an, dass sich eine Gruppe zu ihr setzt und sie schließlich aufnimmt. Willkommen, du verlorene Seele! Mein Fischbrötchen kommt, es ist kein «Bremer», wie ich dachte.

Abfahrt um 13 Uhr. Der Express ist so langsam, dass meine Fitness-App denkt, ich würde Fahrrad fahren. Ganz vorn sitzen drei Frauen mit erstaunlich hässlichen Brillen. Und die Frisuren erst. Aber ich will nicht lästern, ich muss auch mal wieder zum Friseur, fällt mir ein. Aus einem Lautsprecher von Canton erzählt ein Mann viele Dinge über den See, die ich lieber nicht gewusst hätte. Der Mann klingt so, als würde er in seiner Freizeit gern durch einsame Wälder streifen. Auf der Suche nach wehrlosen Joggerinnen.

Dazu gibt es etwas, das nennt sich «Fettbemme»

Um 13:50 Uhr erreichen wir den Weinberg Mücheln. Hier bauen sie tatsächlich Weintrauben an, hat der mutmaßliche Mörder aus dem Lautsprecher berichtet. Die Passagiere stürmen zu einer Bude, wo eine junge Frau Wein verkauft. Dazu gibt es etwas, das nennt sich «Fettbemme». Der Lokomotivführer – ein dünner, leicht mürrischer Mann mit selbst tönender Sonnenbrille – sitzt am Rand im Schatten und starrt ins Nichts. Neben ihm steht ein blauer Becher Kaffee. Nicht jeder liebt seinen Job, nicht jeder findet Erfüllung bei der Arbeit.

Pünktlich um 14:15 Uhr setzt sich der Geiseltalexpress wieder in gemächliche Bewegung. Es herrscht sogleich eine gelöstere Stimmung als eben noch. Auf dem Boden stehen Kartons mit klirrenden Weinflaschen. Mägen verarbeiten Fettbemmen, Lebern kümmern sich um den Wein.

Café Pfännerhall

Fast halb vier: Kaffee und Kuchen im Café Pfännerhall. Das Café ist schon recht hübsch, die alte Halle mit ihrem rustikal-industriellen Flair. Wir sitzen aber draußen, denn da scheint die Sonne. Die Bedienung ist übellaunig und genervt, vielleicht weil sie nicht in der Sonne sitzen darf. Ich habe ein bisschen Angst vor ihr, als ich sie nach dem Kuchenangebot frage; innerlich formuliere ich bereits eine schlechte Google-Rezension (3 Sterne, die Rache des kleinen Mannes). Die Frau schickt mich rein, ich möge mir einen Kuchen an der Kuchentheke aussuchen. Die Frau drinnen meint jedoch, ich soll der Frau draußen sagen, dass ich Kuchen möchte. Ich erkläre, dass die Frau draußen mich eben reingeschickt hat, um einen Kuchen auszuwählen. Ach so. Na ja.

Ich möchte einen Kuchen mit Mandarinen und Quark. Die Frau schiebt das Kuchenstück auf einen Teller, sprüht ungefragt Sahne darauf – und stellt den Teller samt Kuchen und Sahne an die Seite. Mitnehmen darf ich den Teller samt Kuchen und Sahne nämlich nicht. Ich werde ihn erst viel später bekommen, überreicht von der übellaunigen Frau, die auch eine hässliche Brille trägt.

Allzu lecker ist der Kuchen dann leider nicht, der Quark hat eine sonderbare Konsistenz. Irgendwie gummiartig. Der Kuchen stand wohl schon eine Weile in der Vitrine. Die Mandarinen entpuppen sich zudem als Aprikosen. Es war ein Aprikosenkuchen. Der Latte M. aber, der ist in Ordnung. Okay ist der.

Ich hoffe, dass sie abstürzt und qualvoll stirbt

An unserem Riesentisch sitzt übrigens auch wieder die Fremde von vorhin, sie hat es wahrlich auf uns abgesehen. Wieder lauscht sie interessiert unseren Worten, ergänzt sie um ihre recht unoriginellen Ansichten. Als aber meine Frau bemängelt, dass es im Café Pf. keinen veganen Kuchen und keine Milch-Alternative gibt, reicht es der Fremden: Sie meint, dass sich «die jungen Leute» nicht so anstellen sollen, ein bisschen Quark im Schaufenster, äh, im Kuchen sei doch nicht so schlimm! Ach so. Na ja. Könnten Sie bitte mal die Fresse halten?

Die Fremde schüttet sich ihren Kaffee in den Schlund, legt drei Euro auf den Tisch, springt auf und fliegt auf ihrem Besen davon. Wir sind alle erleichtert. Ich hoffe, dass sie abstürzt und qualvoll stirbt. Genau das passiert dann auch, es stand später in der Zeitung. Zu ihrer Beerdigung kommt dann niemand.

Abendessen im Hotel

Die Zeit: 19 Uhr. Es ist schon wieder sehr voll. Der Kellner warnt, dass es heute länger dauern könnte. Ein anderer Kellner ist jung, trägt eine langweilige Brille und tut so, als wäre er ein toller Kellner, der das alles richtig gut kann. Kann er aber nicht: Er ist ein schlechter Kellner, denn er notiert zum Beispiel unsere Bestellungen völlig falsch. «Wer hatte das geröstete Elefantenbaby?» – Tja, niemand.

Bereits nach zwei Stunden kommt das Essen. Kaum jemand ist zufrieden, es fehlt der Fisch und so weiter. Als Wiedergutmachung gibt es Rabatt und kostenlosen Tee und Schnaps. Der arme Kellner, er schwitzt ganz gehörig. Wie ein Triebtäter zur Hochsaison.


Ein Samstag in Leipzig

Die Zeit: 10 Uhr. Frühstück im Café Albert. Guter Kaffee, tolles Essen, genug Obst! Wir schlendern anschließend durch Lindenau, schauen in ein paar Geschäfte rein und trinken in der Brühbar einen Flat White und einen Espresso. Das Koffein treibt uns an. Im Mzin in der Kolonnadenstraße erwerbe ich später ein paar Magazine; an der Thomaskirche schlecken wir Eis bei Tonis Organic Icecream und benutzen heimlich die Personal-Toilette. Am Nachmittag sind wir im Schreibwarenladen Eisenhauer. Ich könnte alles kaufen, aber mein Rucksack ist schon voll. Es riecht darin herrlich nach Kaffee, weil ich im Brühbar noch eine Tüte Bohnen erwarb, aus Guatemala.

Halb fünf: Spätes Mittagessen im Symbiose, in der Karl-Liebknecht-Straße («Karli»). Wir sitzen draußen, die Tram #10 rumpelt an uns vorbei. Ich bestelle einen hausgemachten Eistee (4,20 Euro) und einen gemischten Salat mit Lupinen-Tempeh-Scheiben (8,90 Euro) und dazu geröstetes Vollkorn-Baguettebrot (2 Euro). Am Nebentisch gesteht ein Mädchen, dass es gerade «verdammt glücklich» sei. Dann geht das Mädchen kurz rein, um ihr Smartphone an die Steckdose zu hängen. Zum Nachtisch essen wir veganen Zupfkuchen, der sehr, sehr gut schmeckt. Auch der Latte M. mit Hafermilch gefällt mir sehr. Heimlich denke ich aber, dass Kuhmilch am leckersten ist.

Gestärkt brechen wir auf, unser Ziel: das Deins Meins Unser in Lindenau. Wir wollten eigentlich den Bus nehmen (den #74), aber weil die Sonne so schön scheint, gehen wir zu Fuß; es sind rund 3,8 Kilometer. Wir laufen die Kurt-Eisner-Straße runter, dann am Elsterflußbett entlang, hin zur Weißen Elster und dann über die Könneritzbrücke. Wie schön manche Menschen wohnen.

Abendessen

Die Schwiegerfamilie ist schon da, sitzt am Tisch, wartet auf uns. Es ist kurz nach 19 Uhr, ich bin eigentlich noch satt von meinem Salat. Die Bedienung des Deins Meins Unser ist grummelig, ich habe ihr nichts getan, schade. Ich bestelle Fischstäbchen mit Gurken, lassen den Kartoffelbrei aber weg, weil das sonst zu viel wird. Das Konzept des Lokals ist interessant: Es interpretiert typische Abendessen neu. Es gibt also Klassiker wie Frikadellen, Pfannkuchen (der in Leipzig aber Eierkuchen heißt) und eben Fischstäbchen. Die sind erstaunlich lecker, weil sie hausgemacht sind. Ich muss allerdings ein paar Gräten rausprokeln.

Meine Frau bestellt den veganen Eierkuchen (mit O-Saft gebacken) und Apfelmus; auch sie ist noch satt. Lecker ist auch er. Am Ende des Tages flanieren wir die K.-Heine-Str. entlang. Da sitzen noch mehr glückliche Menschen, die essen und trinken und rauchen. Gemütlich, zwanglos, sie essen bis spätabends. Schon schön.