Oktober. Der Fahrer ist völlig wahnsinnig und lebensmüde. Rasant steuert er den Linienbus durch den Ort, pest dann über die Landstraße. Eigentlich gilt hier 80, aber er fährt 320. Wie im Videospiel, wie bei GTA. Nebenbei telefoniert er mit Mama, hört Musik, lernt Vokabeln, raucht Pfeife. In Bad Wiessee fährt er an einer Haltestelle vorbei, eine Frau regt sich sofort und lautstark auf: «Hallo? Ich will hier raus!» Der Fahrer raunt: «Warte doch!» Bringt das schwerfällige Fahrzeug abrupt zum Stehen. Der Bus steht jetzt schräg hinter der Haltestelle, halb auf der Straße, einigermaßen im Weg. Die Türen gehen zischend auf, die Frau hüpft hinaus. Jemand hupt. Alltag hier draußen.
Die Busse am Tegernsee fahren selten, manchmal nur stündlich, dann aber gleich zwei hintereinander. Wieso die Buslinien vier Ziffern haben, bleibt mir ein Rätsel. Es gibt nur zwei, drei Linien – und eben keine 9000. Egal, der 9559 braust davon und wir stehen im Regen. Unser Ziel an diesem Tag: das Mangfallblau, ein ultraschickes Fabrikrestaurant in Gmund. Dort gibt es hübsch angerichtete Speisen, die hervorragend schmecken. Ansonsten dominiert am Tegernsee die deftige Küche. Würste, Braten, Käse – so etwas.
Im Schuhladen ist sie nicht. Der Verkäufer fängt mich an der Treppe ab, bietet seine Hilfe an. «Ich suche meine Frau», gestehe ich. Das klingt richtig gut: meine Frau. Nicht so banal wie «meine Freundin», sondern erwachsen, ernsthaft und seriös. «Wenn Ihre Frau oben und hier unten nicht ist», beginnt der Verkäufer. – «Ist sie nicht in diesem Laden», ergänze ich. Ich bin der schlauste Mensch der Welt. Es erfolgt eine knappe Verabschiedung und ich bin wieder draußen, an der Hauptstraße, wo gerade ein Porsche-SUV vorbeirauscht, über die rote Ampel gleitet und schwungvoll abbiegt. Aus dem Auspuff fliegen Geldscheine. Ich biege auch ab. Dort steht sie: meine Frau.
Flitterwochen am Tegernsee – das war nicht unbedingt die erste Idee, die wir hatten. Eher Peru oder eine Weltreise, irgendein aufregender Trip ans Ende der Welt. Stattdessen nun also Tegernsee in Bayern. Im Corona-Land. Anreise mit dem ICE, genauer: mit der Stadtbahn, mit dem ICE, mit der BOB, mit dem Bus und zu Fuß. Und doch ging alles schneller, als wenn wir mit dem Auto gefahren wären. Wir haben halt gar kein Auto.
Unser temporäres Zuhause liegt hinter der Agip-Tankstelle, im Ledererhof in Rottach-Egern (Website). Zimmer #7 ist unseres, bestimmt das beste Zimmer des Hauses. Der Balkon schmiegt sich in L-Form um unser Apartment: Ich kann im Schlafzimmer herausgehen und gelange um die Ecke zum Wohnzimmer. Das beeindruckt mich viel zu sehr – ebenso der Blick nach hinten raus, denn dort steht der Wallberg (1722 m). Am Morgen liegt er in dichten Nebel gehüllt, als hätte er ein Geheimnis zu bewahren. Wir werden es ihm entlocken, indem wir die Seilbahn nehmen und zum Gipfel fahren.
Nicht weit von unserem Hotel entfernt hat mein Opa Urlaub gemacht. Im Dezember 2018 bezog er eine Blockhütte an der Rottach. In einer Gaststätte ist er abends offenbar gestürzt; er kam ins Krankenhaus in Agatharied, wo er einige Tage später verstarb. Es ist ein wenig seltsam, als wir zufällig an genau dieser Hütte vorbeikommen. Und die Rottach plätschert, als wäre nie etwas gewesen.
Auf dem Parkplatz kommt uns Flocke entgegen, traut sich erst nicht, dann aber doch. Die Neugier siegt. Flocke ist ein Chihuahua – schneeweiß, heute aber etwas gräulich. Nach anfänglichem Zögern lässt sich Flocke den Kopf und Nacken kraulen. Ein Vergnügen für uns und das Hündchen. Wir sind traurig, als Flocke abreist.
Jeden Morgen gehen wir rüber zum Frühstücksraum, müssen dort am Eingang warten, die Coronaregeln wollen es so. Zuvor mussten wir uns für einen Zeit-Slot entscheiden: 10:15 Uhr, denn wir haben Urlaub, wir möchten gemütlich ausschlafen. So kommt es, dass wir immer die letzten Gäste sind, die dort sitzen und köstlichen Kaffee trinken und perfekt gekochte Eier essen. Ein Büfett gibt es wegen Corona nicht, stattdessen wird das Frühstück an den Tisch gebracht, ebenso unsere kulinarischen Sonderwünsche. Wunderbar.
In Rottach-Egern laufen Leute herum, denen ihr Kontostand auf den ersten Blick anzusehen ist. Es sind viele Steppjacken und Steppwesten zu sehen. Sowie viele kleine Hunde (in Steppjacken). In Tegernsee (dem Ort) sind auch herkömmliche Menschen zu sehen, jedenfalls mehr von ihnen. Dort essen wir in einem italienischen Feinkostladen namens Valeri zu Mittag: Lasagne und Antipasti. Lecker und angenehm ist es dort, denn die Betreiber sind lieb und nett und sprechen offenbar kaum Deutsch. Ich höre mich die Bestellung auf «Italienisch» säuseln, fast wie in einem richtigen Urlaub! Nebenan ist ein altmodisches Café, das Lengmüller, dort essen wir Kuchen und trinken Kaffee. Das Café wäre durch den Hintereingang zu verlassen, Corona ist der Grund. Doch es ist wie eine Zeitreise und alles dauert erstaunlich lange. Die Zeit steht schließlich still, sie endet hier.