Eine Beerdigung führt uns gen Osten, wir reisen mit dem IC an. Diese Zugfahrt ist aufregender als unsere bisherigen: Das erste Mal reisen wir mit Kleinkind. Wie wird der brandneue Sohn seine erste Zugfahrt finden? Wird er die Bahn hassen oder lieben lernen? Pünktlich ist der Zug jedenfalls: Er steht schon da, als wir eintreffen. Die Fahrt beginnt in Hannover und endet in Leipzig.
Rasch noch einen Kaffee kaufen, dann einsteigen, unsere Plätze suchen, der Zug ist angenehm leer. Wir haben den 4er mit Tisch gebucht. Drei Sitze sind unsere, denn der Sohn bekommt einen eigenen Sitz, obwohl er noch gar nicht sitzen kann. (Sein Ticket und die Reservierung sind kostenlos.) Ein mittelalter Mann fragt, ob er sich zu uns setzen kann, in den 4er. «Nein», sagt meine Frau entschieden. Dieser Tisch gehört uns. Noch schläft der Sohn in seiner Trage, schlummert ganz friedlich. Er ist aber eine tickende Zeitbombe, denn jederzeit könnte er aufwachen und losweinen, losheulen, losjaulen.
Ein Familien- oder Kleinkinderabteil gibt es in diesem Zug nicht, deswegen sitzen wir zwischen normalen Passagieren, die sich übers Weinen aufregen könnten. Denke ich zumindest, denn das hier ist immerhin Deutschland, das Land der miesen Launen, der meckernden Menschen, die traurig durchs Leben humpeln und alles blöd finden und dann aus Kummer zu Nazis werden und die AfD wählen. Na ja. Sich zu beschweren, liegt in der deutschen DNA. Und heulende Babys sind für viele ein Graus, dabei waren sie selbst welche und sind es im Herzen noch heute.
Der Mann hinter mir ist allerdings in Plauderlaune. Und er berlinert übertrieben. Er wird die ganze gottverdammte Fahrt reden. Quatschen. Monologisieren. Kommentieren. Nur mit kurzen Pausen. Als er kurz pinkeln ist, merke ich erst, wie wunderbar ruhig es plötzlich ist. Diese Stille! So schön. Dann kehrt er leider zurück und erzählt, dass er ein Fahrrad gekauft hat, ihm bei der zweiten Fahrt aber der Arsch wehtat, er sei dann zu Fuß nach Hause gegangen. Außerdem erzählt er, dass er am Abend gern Pfannkuchen essen würde. Seine Begleitung – eine junge Frau – möchte eigentlich schlafen. Aber das geht nicht, dieser Mann – ihr Begleiter – ist der nervigste Mann aller Zeiten, der die Gusche nicht halten kann. Die Klappe, die Fresse. Wieso sitzt der eigentlich hinter mir?
Dass unser Sohn später laut und bitterlich weint: Das verstehe ich als Rache für sein dummes Geschwätz. Am Ende der Fahrt vertreibt das Weinen den nervigen Mann endlich. Er rennt schon mal zum Ausgang, dort steht er lange herum, bis der Zug in Leipzig in den Kopfbahnhof rollt und schnaufend ankommt.
Zweimal bleibt der Zug während der Fahrt irgendwo stehen, Grund ist dies, Grund ist das – eine halbe Stunde Verspätung ergibt das am Ende. Dem Sohn hat diese letzte halbe Stunde gar nicht gefallen. Er hat seine Faust aufgegessen und ist froh, als er durch den riesigen Leipziger Bahnhof getragen wird. Wobei: Er schaut schon eher skeptisch. Sein Lieblingsblick. Draußen der Trubel der Stadt, alle haben es eilig, Platz da!
Das Hotel, in dem wir in Zimmer #125 nächtigen, liegt in einem Stadtteil von Leipzig, der nicht cool ist. Umgeben von Industrie, einigen brachliegenden Flächen und schwarzen Ruinen. Altlasten der DDR, wahrscheinlich voller Asbest. In diesem Hotel und in der Pension nebenan übernachten vor allem Bauarbeiter und Handwerker aus dem Osten Europas. Sie laufen ohne Shirt herum, zeigen ihre prächtigen Bäuche, es sind rustikale Kerle. Sie grillen dann hinterm Haus, Licht spenden die Scheinwerfer vom Auto. Sie lachen und trinken. Sie rülpsen. Schulz.
Im Hotel sind auch Gäste anwesend, die aus Spaß hier sind, oder auf Durchreise wie die Familie aus München: Mutter, Vater, zwei Kinder. Der Junge will Ball spielen, macht er dann auch, geht allen auf den Senkel. Denn hier befindet sich auch das Restaurant des Hotels – es ist nicht sehr gut, gut auch nicht; es ist okay. Wir sitzen draußen, da sitzen außerdem prollige Leute. Eine Frau ist zwar schon älter, sie hängt halb auf ihrem Rollator, wie eine Tüte voller Quark, doch sie ist eigentlich zu jung dafür. Ich glaube, an ihrem Tisch sitzen AfD-Wähler, denn es herrscht plötzlich eine gespenstische Stille, als wir an unserem Tisch (etwas zu laut) über die Faschisten lästern, über die grausigen Umfragewerte in Sachsen. Da lauschen sie ganz genau und halten den Rand. Sie gehen dann, die Trümmertruppe zieht ab. Alles Raucher übrigens. Ein Taxi fährt vor, es steigen ein: Eine andere Frau mit Krücken, lila Haaren, überall Bandagen. Auch alles Raucher. Die Münchner Familie wirkt im Vergleich fast schon fehl am Platz. Wir hoffentlich auch.
Wie gesagt: Das Essen ist kein Genuss, es macht vor allem satt, ich baller mir einen Cheeseburger rein. Zudem dauert es sehr lange, bis die Speisen endlich vor uns stehen. Fast eine Stunde. Mit hungrigen Mägen, knurrend. Der Sohn schläft derweil sehr ruhig und friedlich in der Trage, immerhin, aber ich esse im Stehen, schunkelnd, wankend. Die Nacht bricht ein, die Mücken kommen. Wir gehen ins Bett.
Am Tag der Beerdigung habe ich den Sohn in der Trage am Körper. Der Friedhof ist ein idyllischer Ort, die Bäume rascheln zaghaft. Ich drehe meine Runden um die Gräber, damit der Sohn endlich einschläft, doch er möchte nicht so recht. Wir spielen ihm den Staubsauger-Sound aus dem Smartphone vor. Endlich schlummert er ein, es ist nur ein seichter Schlaf. Um 14 Uhr beginnt die Trauerfeier in der kleinen Kapelle. Der Redner beginnt – und der Sohn wird wieder wach, er will weinen, er weint. Also verlasse ich die Kapelle wieder und drehe meine Runden um die Gräber. Dann rumort plötzlich mein Magen und ich denke: Mist. Ich frage einen Grabräuber, wo die Toiletten sind. Dahinten, am Eingang, danke! Und so weiter, die Details sind egal. Erleichtert setze ich später meine Runde fort, die Glocken läuten, wir nehmen Abschied am Grab. Der Sohn schläft endlich tief und fest.
Später Leichenschmaus in einer ehemaligen Koffer-Fabrik, zu der wir den Bus nehmen, damit der Sohn in seiner Trage weiterschlafen kann. Schon komisch, im Bus kann ich mit der Trage herumstehen, im Pkw hätten wir ihn herausnehmen müssen, um ihn in seinen gepanzerten Sitz zu setzen. Was ihn garantiert geweckt hätte. (Busunfälle sind anders als Autounfälle, habe ich im Kopf.) Wir ernten erstaunte Blicke von den Trauergästen, als wir an der Bushaltestelle stehen bleiben. In der Bistro-Fabrik angekommen, sind schon alle da, sie waren schneller, klar. An den Wänden hängen alte Dokumente, die mit Hakenkreuz-Stempeln versehen sind. Es gibt Kuchen und Baguette, der Sohn wacht schließlich auf und weint. Abends zieht ein Unwetter über die Stadt. Beinahe wären wir klatschnass geworden.
Am frühen Nachmittag fahren wir an den Schladitzer See, ein Tagebaurestloch im Norden von Leipzig, das geflutet worden ist. Sie haben dort außerdem einen Parkplatz vor den See planiert, mit Schranke und einer Bushalte. Eine Treppe führt hinab zum See, vorbei an einer Eisdiele, die seltsamerweise nicht «Venezia» heißt. Es ist fast halb drei; den Vormittag haben wir damit verbracht, den Sohn zu beruhigen und ein einfaches Mittagessen zu essen – ich bin zum Netto gelaufen und habe dort einen Nudelsalat mit Feta erworben. Dieser Nudelsalat bringt meinen nervösen Magen in Aufruhr, nehme ich an, ich scanne das Ufer des Sees also nach Toiletten ab, ein Schild hat diese angekündigt, sie müssten hier doch irgendwo sein. Aber ich sehe nur: ein Dixi-Klo. Eine Toilettenkabine, die verloren in der Gegend herumsteht. Leicht schief. Nun, es hilft alles nichts … (Toilettenpapier gibt es nicht, immerhin raue Papiertücher, die eigentlich für die Hände gedacht sind.) Ich bin einigermaßen sauer, aber schlussendlich wieder: erleichtert. Hole mir dann noch einen Sonnenbrand im Nacken, als wir ein wenig am See entlanglaufen. Immerhin läuft dort ein lustiger Chihuahua herum, er heißt Cookie, und er möchte Sex mit allen Hündinnen haben. Die sind viel größer als das dürre Hündchen.
Im Bahnhof möchte der Sohn gestillt werden, derweil geh ich pinkeln, das Vergnügen kostet einen Euro, denn irgendeine Firma betreibt die Toiletten. Dafür gibt es einen Rabatt-Coupon, den ich prompt verliere. Auch dass es kaum Sitzbänke gibt, spricht ja Bände: Hier sollen ja keine Obdachlose pofen. Die Bänke auf den Bahnsteigen, die sind natürlich so gebaut, dass fast niemand auf ihnen liegen kann – Babys schon, den Sohn wickeln wir auf der Bank, weil wir keinen weiteren Euro zahlen wollen.
Beim Bäcker dann noch zwei Leipziger Lerchen kaufen – und der Verkäufer hat die Geduld eines Steins. Es dauert alles sehr lange und er macht kuriose Fehler, zum Beispiel will er ein Brot in eine Tüte packen, die zu schmal und zu kurz ist, jeder sieht das, es ist völlig verrückt, dass er überhaupt versucht, das runde Brot in dieses Tütchen zu schieben, aber er probiert es tatsächlich aus – und das Brot passt nicht. Überraschung, dann muss er eine größere Papiertüte organisiere, ich schaue auf die Uhr, der Zug kommt in fünf Minuten – ich möchte nicht mehr, bekomme dann aber schließlich doch die beiden Lerchen und das Brot ausgehändigt. Danke, Ciao.
Gleis 15, Abschnitt C, Wagen 1. Im Zug, dieses Mal im Familienabteil. Leider haben wir es nicht ins Kleinkinderabteil geschafft, das war ausgebucht. Das hier ist trotzdem ein Safe Space: Wir brauchen kein schlechtes Gewissen haben, wenn der Sohn weint und schreit, hier dürfen Kinder auch mal lauter sein. Andererseits steigt später ein seltsamer Mann ein, der sich ins Familienabteil setzt und sein Handy etwas sonderbar hält, als meine Frau stillt. 🙄 Sowieso sitzen hier erstaunlich viele Leute ohne Kinder, aber mit Laptop. Wollen die hier in Ruhe arbeiten? Der Mann mit dem Handy regt sich dann tatsächlich noch über die beiden Kinder auf, die weiter hinten herumtoben. Deutschland, dieses Land voller Trottel. Die Fahrt endet pünktlich in Hannover.