Der Makel

8. November 2018

Dies ist eine Gruselgeschichte für Buchliebhaber und Pedanten, die stets hoffen, ein makelloses Buch im Handel zu erwerben. Leider passiert das nicht immer.

In der großen Buchhandlung in der Innenstadt kaufte ich: ein Buch. Zu Hause entfernte ich die Plastikfolie, was mir immer großen Spaß bereitet, aber nur, wenn die Folie dünn ist und sie sich leicht entfernen lässt. Ich schlug das brandneue Buch auf – und entdeckte prompt einen bräunlichen Fleck auf Seite 11. Meine Finger sind offenbar elf Seiten lang, überlegte ich wirr, und betrachtete den wunderlichen Fleck. Er war hart und krustig. Was war das? Vogelkot? Blut? Ein plattgewalztes Tier? Ausgelaufene Farbe? War das etwa der Heilige Yimpa? Ne.

Zunächst wollte ich mir einreden, dass mich der Fleck nicht stört, dann aber überwog mein innerer Pedant, der schrie: «Ein Fleck in einem 30 Euro teuren Fachbuch ist inakzeptabel. Das bringen Sie aber ganz schnell wieder zurück!» Ich willigte ein, na gut, dann tausche ich das Buch eben um. Der Fleck hätte mir sicherlich schlaflose Nächte bereitet.


Donnerstag

Zurück im großen Buchladen in der Innenstadt lief ich aufgeregt zum freien Service-Schalter im zweiten Stockwerk: «Hören Sie, begann ich, dieses Buch …» – «Wollen Sie das zurückgeben? Geht nur an der Kasse», grummelte die Frau mittleren Alters, deren schweigender Mund sodann ein umgedrehtes U beschrieb. – «Oh», summte ich und stellte mich an die Kasse, die sich gleich neben dem Service-Schalter befand. Viele Menschen standen dort, und ein Hund, der eine Jacke trug. Er hatte sehr dünne Beine. Dem Hund war anzusehen, dass er rasch nach Hause wollte. Aber sein Herrchen ließ sich am Geschenkeverpackungsservice, der sich neben der Kasse befand, ein Buch verpacken. «Haben Sie auch eine Tüte?», fragte das Herrchen die Verpackungskünstlerin, während sie gekonnt das Buch in Papier einschlug. Sie konnte sich meiner Bewunderung sicher sein. Beeil dich, sagte der Hund mit seinen Augen. «Eine Tüte kostet 20 Cent.» Beeil dich, wiederholte der Hund flehend. Kurz stand der Mann einfach nur da, er musste die neue Information in Ruhe verarbeiten. Ich wartete gespannt ab; 20 Cent sind viel Geld. «Dann nicht», sagte das Herrchen schließlich, grapschte sich das hübsch verpackte Buch und stapfte samt Hund davon. Er bellte vor Freude.

Vor mir standen noch fünf Leute. Die Zeit verging. Es wurde kassiert. Viele zahlten in bar. Als ich schließlich dran war, nahm der Kassierer mein Buch entgegen. Es war alles Routine, es herrschte eine unendliche Langeweile. Auf seinem Namensschild stand: Herr Kunkel.

Herr Kunkel hielt das Buch in der Hand. «Da ist ein Fleck auf Seite 11», informierte ich. – «Aha», erwiderte er. – «Der Fleck ist komisch», ergänzte ich unaufgefordert. Kunkel öffnete das Fachbuch und es dauerte erstaunlich lange, bis er Seite 11 fand. Als würde Seite 11 nicht den Seiten 8, 9, 10 folgen und stattdessen völlig willkürlich in dem Buch auftauchen. «Meine Finger sind exakt elf Seiten lang», sagte ich, um die Stille zu unterbrechen. Kunkel schwitzte. Er betrachtete den Fleck für einige Minuten – und klappte das Buch wieder zu.

«Kann ja sein, dass ein Tier in die Walzen geraten ist», erklärte er. «Zum Beispiel», sagte ich. Herr Kunkel reichte das Buch endlich zu der Frau am Service-Schalter. Es war die Frau mit der Brille, die Frau mit dem umgedrehten U als Mund.

«Ist das Buch defekt?», fragte sie. – «Da ist ein Fleck auf Seite 11.» – «Hm», machte sie und notierte diese Information auf einem Zettel: Fleck auf Seite 11. «Haben Sie zehn Cent?», fragte mich Herr Kunkel. «Nein, leider nicht», sagte ich wahrheitsgemäß. «Habe ich nie.» Er gab mir das Geld zurück: 29 Euro und 90 Cent. Ich bekam viele Centmünzen, nämlich neunzig Stück. Ich warf sie auf den Boden. «Tschüss.»

Nun stand ich da, ohne Fachbuch. Eigentlich wollte ich ein neues haben, eins ohne Fleck. Aber im Regal stand es nicht mehr. Ich hätte es bestellen können, aber dazu hätte ich an den Service-Schalter gemusst – glaube ich. Egal, ich gehe erst mal nach Hause, etwas essen, ein wenig auf dem Sofa sitzen, dachte ich, und tat genau dies. Das Leben ist anstrengend.


Am Samstag behauptete die Website des Buchladens, das Buch sei wieder verfügbar. Also fuhr ich in die Stadt und betrat den großen Buchladen. Aber im Regal stand es nicht. Hatte die Website mich belogen? Bei einer Fachkraft fragte ich nach. Sie tippte ein paar Buchstaben in ihren Intel-Pentium-II-Rechner, Windows 93 surrte, piepte und fiepte, dann sagte die Fachkraft: «Dieses Buch haben wir nicht da.» Ob sie es für mich bestellen solle? Ich dachte kurz darüber nach und sagte schließlich: «Na gut.» Verspätet wurde mir die Konsequenz des erteilten Auftrags bewusst: Ich würde abermals herkommen müssen – wie ein Hurensohn.


Am Montag lag das Buch in der Buchhandlung zur Abholung bereit. Eine E-Mail informierte mich über diesen Umstand. Ich solle den Mitarbeitern am Service die Abholfach-Nummer nennen, erklärte das elektronische Schreiben. Die Abholfach-Nummer lautete 010_0311_220. Das tat ich dann am Abend am Service-Schalter. Wieder hatte der Uhu mit Brille Dienst.

«Guten Abend, ich möchte ein Buch abholen», gestand ich. – «Haben Sie die Nummer vom Abholfach?» – «Ja», sagte ich und rief laut und deutlich die Nummer: «Null, Eins, Null, Unterstrich …» – «Den Unterstrich brauchen ich nicht», rief der Uhu und murmelte noch irgendetwas, das ich nicht mehr verstand. Wahrscheinlich waren es üble Flüche, gerichtet an irgendeinen Dämon der Unterwelt. Aus einem der vielen Fächer zupfte sie das Buch heraus und hielt es mir hin.

«Wollen Sie das Buch sogleich bezahlen oder es noch mal anschauen?» – «Hm», machte ich und beäugte das Buch. «Das nehme ich sofort.» Während sie das Buch vom Service-Schalter zur Kasse trug, entdeckte ich aus der relativen Ferne jedoch eine tiefe Kerbe im Cover. Außerdem war die eine Ecke ziemlich ramponiert und angestoßen.

«Oje, das ist ja beschädigt», nölte ich und deutete mit meinem 11-Seiten-langen Finger auf die Stellen. – «Das nehmen Sie nicht!», brüllte mein innerer Pedant aufgebracht. – «Ich kann Ihnen einen Rabatt geben», sagte die Service-Frau. Buchpreisbindung!, dachte ich und sagte: «Wie viel Rabatt wäre das?» – «Neunzig Cent. Wollen Sie das Buch nun haben?» – «Ja … also … dann nehme ich es nicht», stammelte ich. – «Aha. Sie können es noch einmal neu bestellen», bot die Frau als Hilfe an. – «Dann mache ich das», log ich. – «Sie müssen dafür zu meinem Kollegen gehen», sagte der Uhu und deutete in die Weiten des endlosen Raumes. In der Ferne stand ein kleiner Buchhändler an einem der PCs und bediente Menschen und Hunde und eine Giraffe (die Mein Kampf kaufen wollte, die kritisch kommentierte Edition). – «Oder ich lasse es», murmelte ich und lief so schnell wie ich konnte nach Hause, und weinte bitterlich, viele Abende lang, nur noch heulen.

Epilog

Ich habe das Buch schließlich bei einem anderen Buchladen bestellt, einem kleinen Laden, der sich in der Nähe meiner Arbeitsstätte befindet und inzwischen pleite ist. In der Mittagspause lief ich hin und holte das Buch ab. Ich zahlte «mit Karte», dann fragte die Buchhändlerin, ob sie mal meinen Ausweis sehen könne. Das ist doch kein Sex-Buch, dachte ich. «Auf Ihrer Girocard fehlt eine Unterschrift, erklärte die Frau. – «Ach so, die ist neu», schwindelte ich.

Ich verließ den Laden, das Buch war endlich meins. Doch es war nur noch Leere, die ich fühlte. Daheim konnte ich keine Mängel an dem Exemplar feststellen. Ob ich es jemals lesen werde? Natürlich nicht.