Am frühen Abend gerieten die Bewohner des Hauses in helle Aufregung: Ein Fremder hatte an den Türen geklingelt!
Zuerst klingelte der Mann bei uns, weil wir im Edgeschoss wohnen. Ich öffnete widerwillig, der Mann betrat das Treppenhaus. Er trug eine runde Brille, einen dunklen Lederhut und einen schwarzen Anorak. Er sah einerseits aus wie ein Triebtäter; andererseits wie ein typischer Mann um die fünfzig, der zu viel Zeit in Gebüschen verbringt.
Ich kannte den Mann nicht und dachte: Bestimmt ein Nachbar von gegenüber, der sich bei mir beschweren will. Leute wollen sich immer beschweren, zum Beispiel über mein schlechtes Parkverhalten: dass mein Auto völlig beschissen vor seiner Einfahrt stünde. Nur habe ich gar kein Auto, also musste der Mann irgendwas anderes von mir wollen. Nur was?
Ehe ich mich weiter wundern konnte, rief der Mann offensiv, dass er behindert sei: «Guten Abend, ich bin behindert und –» Aha, dachte ich, so ist das also. Er klang auch behindert, wenn ich das mal schreiben darf, oder eher wie jemand, der behindert tat, der das schlecht vorspielte. Sein Körper wirkte jedenfalls vollständig, ich konnte zwei Arme sehen, zwei Beine und natürlich einen Kopf auf einem Körper. Über seinen geistigen Zustand konnte ich mir zunächst kein Bild machen.
Der mutmaßliche Behinderte stand nun vor mir, vor unserer Wohnungstür, und fummelte an seiner Jacke herum, bis er einige Grußkarten aus dem Innenfutter gezogen hatte und sie mir fächerartig präsentierte. Ich warf einen kurzen Blick auf die Karten und wusste sofort: Die will ich niemals besitzen – man müsste mich mit Waffengewalt zwingen, diese Karten in meine Karten-Schublade zu legen. Das sagte ich ihm auch: «Ich habe kein Interesse an Ihren Klappkarten, aber danke.»
Ich weiß schon jetzt, dass ich diese Karten nicht haben möchte
Der Mann rief erbost: «Sie haben sich die Karten gar nicht angeschaut!» – Ich sagte: «Ich weiß schon jetzt, dass ich diese Karten nicht haben möchte.» – «So geht man nicht mit einem Behinderten um!», maulte der Mann. – «Kommen Sie mir nicht damit, ich möchte Ihre Klappkarten nicht kaufen, schon gar nicht aus purem Mitleid oder wegen einer ausgedachten Verpflichtung, jedem Behinderten etwas abkaufen zu müssen.» Der Mann schwieg. Ich wartete ab. «Wir Behinderten haben doch sonst nichts», behauptete er. Doch meine Entscheidung war endgültig. Der mutmaßliche Behinderte zeterte leicht wütend, aber das wurde leiser, als ich die Wohnungstür schloss.
Einige Minuten später hallten plötzlich laute Stimmen durchs Treppenhaus. Der Nachbar von oben echauffierte sich: «Hausieren ist verboten!», lallte Herr Koßmann. «Soll ich Sie rauswerfen?» Die Nachbarin von nebenan drohte ergänzend, die Polizei zu alarmieren. Der Mann wehrte sich verbal, er sei doch behindert. «Sie gehen jetzt besser», warnte der Nachbar von oben. «Das ist mein Treppenhaus.» Was nicht stimmte, er war keineswegs unser Vermieter.
Musste ich nun den Behinderten gar vor meinen Nachbarn schützen, überlegte ich, während ich durch den Türspion das Geschehen beobachtete. Doch so weit kam es nicht – der Mann seufzte und sagte: «Also schön!» Schnellen Schrittes lief er die Treppe hinab und verschwand im Nebel. Die Haustür fiel ins Schloss und die Nachbarn verzogen sich wieder in ihre Wohnungen, um der abendlichen Routine nachzugehen. Es war der aufregendste Tag seit Langem. Herr Koßmann hat noch lange davon erzählt.