Es riecht etwas nach Rauch. Der Raum ist kalt, draußen liegt noch Schnee. Schweigend stehen die Männer und Frauen nebeneinander. In schwarze Wintermäntel gehüllte Körper. Manche von ihnen atmen schwer. Ich sehe in fremde Gesichter und schaue auf das Linoleum; es ist grau meliert und mehr nicht. In der Ecke stehen zwei Pflanzen mit länglichen Blättern. Außerdem steht da eine Urne. In dieser Urne ruhen die gemahlenen Aschereste von meinem Großvater, und die Urne steht auf einem Tisch, und dieser Tisch steht in diesem Raum, und wir stehen in diesem Raum unter rechteckigen Neonleuchten.
Die Decke ist gräulich, die Wände sind es auch. Dort stehen Stühle, aber niemand will sitzen. Niemand will reden. Nur der freie Redner redet, hält seine Rede, denn das ist sein Job. «Setzen Sie sich doch», bittet er – und wir setzen uns doch. Der bestellte Redner kannte meinen Opa nicht, redet aber so, als hätte er ihn gut gekannt. An der Wand hängt ein schwarzes Kruzifix an einem Nagel. Am Kreuz hängt der abgemagerte und gemarterte Jesus. Nägel in seinen Handflächen, er leidet ewig. Hat mein Opa überhaupt an Gott geglaubt? Ich weiß es nicht, bezweifle es.
Der Redner lässt sein Leben an uns vorbeiziehen, zählt gewissenhaft die wichtigsten Stationen auf. Beim Lebensjahr vertut er sich jedoch und muss korrigiert werden. In der Hand hält er eine Ledermappe und liest eine Biografie vom Blatt ab, vieles lässt er aber weg. Die düsteren Kapitel bleiben geschlossen – wir erinnern uns an die schönen Zeiten. Zum Abschluss laufen zwei Lieder von Udo Jürgens. Die Friedhofsmitarbeiterin unterdrückt ein Gähnen.
Jemand hat seine Urne vom Tisch genommen, sie steht nicht mehr da. Ich wollte ein Foto von ihr machen; ich weiß nicht, warum. Jetzt ist es zu spät. Egal. Wir verlassen den Raum, machen uns auf den Weg. Hinter dem Gebäude liegen alte Holzkreuze auf einem Haufen. Liegen da kreuz und quer, ineinander verkeilt. Aufgelöste Gräber, aufgelöste Erinnerungen.
Wir stehen vor seinem Grab, auf dem bunte Kränze liegen. In Liebe. Wir denken an dich. Für immer unvergessen. Lügen, denn natürlich wird mein Opa irgendwann in Vergessenheit geraten – wir alle werden nicht in ewiger Erinnerung bleiben.
Den ganzen Morgen lang war der Himmel grau gewesen. Doch jetzt reißt die Wolkendecke plötzlich auf und die Sonnenstrahlen lassen den Grabstein aufleuchten. Ein Zeichen, alle sind sich sicher – Gott habe Humor! Nur ein Zufall, denke ich. Gott ist tot, das weiß ich. Jeder wirft eine Handvoll kalte Erde in das Loch, sie prasselt auf den schwarzen Deckel der Urne. Am Rand stehen die beiden Friedhofsmitarbeiter und rauchen. Als wir gehen, schütten sie das Loch zu und begraben die Urne, in der die Reste von meinem Großvater liegen. Ich weiß, dass ich nie wieder zurückkehren werde.